Ästhetik und Ethik, politisch

Die rechte Opposition im rumänischen Parlament – „rechts“, wenn man´s glaubt, dass die PSD-ALDE-Koalition eine Linkskoalition ist (???) – übt sich seit Beginn der Legislaturperiode in Vogel-Strauß-Politik. Bisher vermochte sie noch nie über den Rand des Sandlochs hinwegzublicken, in dem ihr Kopf pausenlos steckt. Die Opposition besteht aus ideologischen Straußenvögeln, die aus Mangel an Richtung einfach die Augen zudrücken und die vom Ungarnverband UDMR unterstützte überwältigende Regierungsmehrheit widerstands- und tatenlos gewähren lassen.

Ein Eindruck, den man schwerlich unterdrücken kann: Zur Opposition gehören nicht wenige Parlamentarier, bei denen eine Art geheime Genugtuung festzustellen ist, etwa angesichts der blödsinnigen fiskalischen Maßnahmen der PSD/ALDE – sofern diese sie persönlich nicht direkt betreffen – oder gegenüber den Novellierungen mancher Kapitel des Strafgesetzbuchs, aufgrund welcher notorische Gesetzesübertreter im Parlament Persilscheine ausgestellt bekommen. Die oppositionellen Dulder haben sicher auch ein Eigeninteresse...

Dass die gesamte Opposition, einschließlich allen anderen sich als Opponenten des PSD/ALDE-Regimes ausgebenden Parlamentarier mucksmäuschenstill und wohl auch mit höchster Genugtuung die beträchtlichen Lohnerhöhungen im Parlament akzeptiert hat, für die sie selber mitgestimmt hatte (unwichtig ob dafür oder dagegen, die Opposition hat eh nichts zu sagen), während ein Teil der Lohnempfänger Rumäniens durch die ab 2018 wirksamen fiskalischen Maßnahmen Lohneinbußen hinnehmen muss, das gehört nicht nur zum Kapitel Augenzudrücken, das ist Charaktersache.

Der oppositionelle Lärm, der ab und an öffentlichkeitswirksam zu hören ist, gehört zum guten Ton: Sand in die Augen. Oder gibt es einen einzigen Fall eines rumänischen (oder andersnationalen) Parlamentariers, der die Annahme der jüngsten Lohnerhöhung verweigert hat, einfach weil sie unmoralisch ist? Oder der das zusätzliche Geld jetzt regelmäßig für einen guten Zweck spendet? Dass die Parlamentarier unter allen Lohnempfängern Rumäniens die wenigsten nachweisbaren Stunden arbeiten, ist bekannt, d. h. sie kassieren die höchsten Stundenlöhne, die jemals Staatsdienern in Rumänien ausgezahlt wurden. Dafür haben sie gestimmt.

Auch so wird die Opposition zum devoten Diener der Mehrheit. Und ist dieser nützlich: Der Anschein der Demokratie bleibt. Sand in die Augen des Auslands. Im Inland kümmert sich kaum jemand drum. Der Arzt, Psychiater und Literat Ion Vianu macht kürzlich in einem Gespräch (für „România Literar²“) den feinen Unterschied zwischen Praxis und Perzeption von Ethik. „Charakter ist ein Produkt, das schwer zu finden ist (...) in Ländern, deren Schicksal über lange Zeit von totalitären Regimes beherrscht wurde. Und (...) unter der Herrschaft einer Religion, deren erstrangige Beschäftigung nicht die Ethik ist. Die Orthodoxie ist ein Christentum der Schönheit, der Anbetung der göttlichen Schönheit.“ Das Ästhetische werde dem Ethischen vorgezogen. „Protestantismus oder Katholizismus erziehen den Menschen im ethischen Sinn. Leben in einem legal gegründeten Regime – nicht unbedingt in einer Demokratie – erzieht den Menschen ethisch. Allein ein Regime der Willkür, wie es Rumänien jahrhundertelang kannte, erzieht nicht, und keineswegs ethisch. (...) Vergangenheit und Gegenwart Rumäniens lassen ernsthafte Zweifel an einer ethischen Zukunft Rumäniens aufkommen.“

Was wir gegenwärtig als politisches Tun in diesem Land erleben, zwingt dazu, ernsthaft über diese Behauptung Ion Vianus nachzudenken – empfehlenswert wäre dieses Nachdenken auch für die wenigen Politiker, die Ion Vianus Aussagen verstehen, der aus den politischen und geistigen Eliten der rumänischen Zwischenkriegszeit kommt und diesen verbunden ist (er ist der Sohn des Philosophen, Literaturkritikers und -theoretikers Tudor Vianu)...