BGH verhandelt zur „Judensau“ an Wittenberger Stadtkirche

Das antisemitische Relief an der Wittenberger Stadtkirche ist heftig umstritten

Die Tiermetapher „Judensau“ bezeichnet ein im Hochmittelalter entstandenes häufiges Bildmotiv der antijudaistischen christlichen Kunst. Es sollte Juden verhöhnen, ausgrenzen und demütigen, da das Schwein im Judentum als unrein gilt und einem religiösen Nahrungstabu unterliegt. Spottbilder mit dem Judensaumotiv sind seit dem frühen 13. Jahrhundert belegt und auf Steinreliefs und Skulpturen an etwa 30 Kirchen und anderen Gebäuden vor allem in Deutschland bis heute zu sehen.
Fotos: Hendrik Schmidt/dpa

Um 1290 entstand im und am Chor der Wittenberger Stadtkirche ein Bildzyklus, der die Abwehr von Dämonen und Sünden zum Thema hat, Teil davon war das Schmährelief. Seit 1517 war die Stadtkirche der Predigtort Martin Luthers und Ursprung der Reformation.

Über eine als „Judensau“ bezeichnete Schmähplastik an der Stadtkirche Wittenberg in Sachsen-Anhalt wird seit Montag (11.00 Uhr) am Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe verhandelt.  Das Relief für sich betrachtet sei „in Stein gemeißelter Antisemitismus“, stellte der Vorsitzende Richter Stephan Seiters am Montag in Karlsruhe klar. Allerdings ist das antijüdische Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert inzwischen um eine Bodenplatte und einen Aufsteller ergänzt, die die Darstellung einordnen sollen. Der sechste Zivilsenat will seine Entscheidung am 14. Juni verkünden.

Ein Kläger will, dass das antijüdische Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert entfernt wird (Az. VI ZR 172/20). Es zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch Spitzhüte als Juden identifiziert werden. Eine laut BGH als Rabbiner geltende Figur hebt den Schwanz des Schweins und blickt ihm in den After. Die Stadtkirchengemeinde bezeichnet die „Wittenberger Sau“ als „ein schwieriges Erbe, aber ebenso Dokument der Zeitgeschichte“.

Vor dem Landgericht Dessau-Roßlau und dem Oberlandesgericht (OLG) Naumburg war der Kläger gescheitert. Dietrich Düllmann, der nach eigenen Angaben 1978 zum Judentum konvertiert ist und sich seither Michael nennt, ist fest entschlossen, auch im Fall einer weiteren Niederlage nicht aufzugeben: „Ich werde den ganzen juristischen Weg ausschöpfen“, sagte der 79-Jährige der Deutschen Presse-Agentur schon im Vorfeld. Im Zweifel wolle er am Bundesverfassungsgericht und schließlich am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorstellig werden.
Dass sich der Bonner überhaupt durch die Instanzen klagt, ist nach seinen Worten eher einem Zufall geschuldet: In einem Artikel habe er vor einigen Jahren über die „Judensau“ gelesen, berichtete Düllmann. Damals habe es Demonstrationen deswegen in Wittenberg gegeben, an denen er dann auch teilgenommen habe. Dort sei er gefragt worden, ob er nicht juristisch gegen das Schweine-Relief vorgehen wolle. Einen juristischen Hintergrund hat Düllmann nicht, wie er sagt. Er hat mal evangelische Theologie, Politik und Geschichte studiert – aber nichts davon abgeschlossen. Zuletzt habe er als Altenpfleger gearbeitet. Düllmann bezeichnet sich als linksliberal und war in der Friedensbewegung aktiv. So begründet er seinen Antrieb.

Der Fall hat Brisanz, weil das Relief nicht an irgendeiner Kirche prangt: In der Wittenberger Stadtkirche hatte einst Martin Luther (1483-1546) gepredigt. Sie gilt als Mutterkirche der Reformation. Wegen seiner antijüdischen Äußerungen geriet der Theologe in die Kritik. Luther „von seinem Sockel zu stoßen“, sei auch sein Anliegen, sagte Düllmann. „Er muss als Erz-Antisemit klar benannt werden.“

Das OLG hatte 2020 entschieden, zwar stelle die Skulptur isoliert betrachtet eine Beleidigung dar. Zur Zeit der Entstehung habe sie das Ziel gehabt, Juden verächtlich zu machen. Doch ist die Plastik nach Auffassung des Gerichts seit 1988 Teil eines Mahnmals und hat keinen beleidigenden Charakter mehr. Eine Erklärtafel in der Nähe der Abbildung weist auf den Kontext hin.
Schmähplastiken dieser Art seien besonders im Mittelalter verbreitet gewesen, heißt es dort. „Es existieren noch etwa fünfzig derartige Bildwerke.“ Der Zentralrat der Juden hat keine sicheren Informationen über die Gesamtzahl solcher Darstellungen. Von anderen Rechtsstreitigkeiten, die sich an einem BGH-Urteil orientieren könnten, weiß man dort laut einer Sprecherin nichts. Zentralratspräsident Josef Schuster hatte nach der OLG-Entscheidung erklärt, „umso mehr bedarf es der Anbringung einer Tafel, die das Schmährelief eindeutig erläutert und in den historischen Kontext einordnet“. Auf Nachfrage antwortete er nun, die Kirche müsse eine klare Abgrenzung und Verurteilung zum Ausdruck bringen. Das sei aus der aktuellen Erläuterung nach seinem Verständnis nicht ersichtlich.

„Die antijudaistische Geschichte der Kirche lässt sich nicht ungeschehen machen“, räumte Schuster ein. „Daher ist die Anbringung einer Erklärtafel besser, als eine solche Schmähplastik einfach zu entfernen und damit zu verleugnen.“ Einordnende Erklärungen seien zwingend notwendig. „Sie müssen Hintergrundinformationen liefern und die Aussagen des Bildwerks unzweideutig verurteilen.“ Gelungene Beispiele gibt es nach Angaben des Zentralrats am Regensburger Dom und an der Ritterstiftskirche St. Peter in Bad Wimpfen bei Heilbronn.

Der Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Christian Staffa, erklärte: „Die Wittenberger ,Kirchensau‘ stellt fraglos eine Schmähung dar und kann so nicht bleiben. Doch die lange Geschichte christlichen Antijudaismus und Antisemitismus, die sich in diesem Relief auf obszöne Weise verdichtet, ist nicht auf juristischem Wege zu klären.“ Vielmehr gehe es darum, die kirchlichen Zeugnisse antijüdischer Haltung und Praxis als Anlass zur Umkehr von aller Judenfeindschaft zu nehmen. „Sich der antijüdischen Geschichte zu stellen und diesen Prozess auch sichtbar zu machen, ist ein langer Weg, der mittlerweile begonnen, aber noch lange nicht zu Ende ist.“

Der Umgang mit antijüdischen und antisemitischen, aber auch aus heutiger Sicht rassistischen Relikten der Vergangenheit ist nicht nur bei Kirchen ein Thema. Auch Museen zum Beispiel stellen sich vermehrt der Frage und ergänzen Ausstellungsstücke etwa mit Erklärtafeln oder stellen Kunstwerke bewusst auf den Kopf. In der Biologie wurden schon Bezeichnungen von Tieren geändert, um auf diese Weise Namensbestandteile etwa aus Kolonialzeiten zu entfernen.