Das Krankenhaus

Seit jeher träumen Weltverbesserer davon, die „perfekte Gesellschaft zu errichten. Gelänge es, alle Menschen dahin zu bringen, sich von allen Fehlern und Lastern zu befreien, so wäre damit die vollkommene Gesellschaft verwirklicht. Es gäbe keinen Unterschied mehr zwischen Reichen und Armen, keine Kriege würden vom Zaun gebrochen, die Schwerter könnte man in Pflugscharen umschmieden und der Friede hätte eine bleibende Heimstätte auf Erden gefunden. Ist das möglich? Leider wird dieser so sehr erwünschte Zustand immer nur eine Utopie bleiben. Niemals werden alle Menschen sündenlos und fehlerfrei sein. Kein Erdenbürger fällt als fix und fertiger Heiliger vom Himmel. Das Sichbefreien von Sünden und Fehlern, also das Heiligwerden, ist ein mühsamer Selbsterziehungsprozess, der sich über die ganze Lebenszeit hinzieht. Doch nur sehr wenige Menschen erreichen dieses erstrebenswerte Ziel. Die meisten bleiben irgendwo auf der Wegstrecke stecken als ein Konglomerat von Gut und Böse. Viele versuchen nicht einmal den Weg des Guten zu betreten.
Diese Erfahrung mussten bisher alle Utopisten machen. Deshalb versuchen sie, ihr Ideal nur in kleinen, geschlossenen Gruppen zu verwirklichen. Während der Lebenszeit Christi gab es bei den Juden zwei dieser Gemeinschaften. Die einen waren die Essener. Sie lebten in einer Art klösterlicher Gemeinschaft an den Gestaden des Toten Meeres, nannten sich „die Reinen“. Die anderen waren die Pharisäer. Sie beachteten alle Vorschriften des mosaischen Gesetzes und nannten sich „die Abgesonderten“. Beide waren der Überzeugung, der Eingang in das Reich Gottes würde nur ihnen zustehen. In den ersten Jahrhunderten des Christentums gab es innerhalb der Kirche Strömungen, die eine „Kirche der Heiligen“ forderten. Alle Sünder müssten aus der Kirche ausgeschlossen werden. Aber solche Strömungen setzten sich nicht durch.

Es stellt sich die Frage: Wollte Christus eine perfekte Gemeinschaft, eine „Kirche der Heiligen“ gründen? Nein. Christus war Realist. Er erklärte: „Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder!“ Damit gab er grünes Licht zum Eintritt auch der Sünder. In der Bergpredigt gab er Verhaltensmaßregeln, wie zwischenmenschliche Probleme zu lösen seien, ohne Ausschluss aus der Gemeinschaft. In einer Kirche der Heiligen hätte Christus keinen Platz.

Ein Schwarzer wollte in eine New Yorker christliche Gemeinde von Weißen aufgenommen werden. Doch der Pfarrer war reserviert. „Tja“, sagte er, „da bin ich nicht sicher, Mr. Jones, ob es unseren Gemeindemitgliedern recht sein würde. Ich schlage vor, Sie beten zu Hause und warten, was Ihnen der Allmächtige darüber zu sagen hat“. Einige Tage später kam der schwarze Mr.Jones wieder. Er sagte: „Herr Pfarrer, ich habe Ihren Rat befolgt. Ich sprach mit dem Allmächtigen über die Sache. Er sagte zu mir: Mr. Jones, bedenke, dass es sich um eine sehr exklusive Kirche handelt. Du wirst wahrscheinlich nicht hineinkommen. Ich selbst versuche das schon seit vielen Jahren, aber bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen.“ Sollte in einer exklusiven Kirche von weißen Schafen kein schwarzes Schaf Aufnahme finden,  hat auch Christus keinen Platz. 

Manche zeigen mit Fingern auf die Kirchgänger, die alles andere als Heilige sind. Sie sagen: „Wer ständig in ein heiliges Haus läuft, müsste doch selber heilig sein.“ Haben sie recht? Keinesfalls. Die Kirche Christi ist nicht eine Kirche von fertigen Heiligen, sondern eine Kirche der Sünder, die sich erst von den Sünden befreien müssen. Wahr ist der Ausspruch Kardinal Diepenbrocks. „Ach, die Menschheit ist so tief gefallen und in sich zerfallen, dass die christliche Kirche, eben weil sie Heilsanstalt ist, stets ein Krankenhaus bleiben wird, darin Gesundende noch der erfreulichste Anblick sind, neben soviel Schwerkranken und leider unheilbar Scheinenden.“

Welcher vernünftige Mensch bestreitet die Notwendigkeit von Krankenhäusern bloß darum, weil sich darin nur Kranke aufhalten? Wir alle sind durch die Erbsünde infiziert und leiden an der seelischen Krankheit der Sündhaftigkeit und an der Unbeherrschtheit unserer vielfältigen Begierden. Seien wir dankbar dafür, dass Christus das Krankenhaus der Kirche an unseren Lebensweg gebaut und uns durch die Taufe das Recht auf die Aufnahme in diese Heilsanstalt zugesichert hat. Seien wir keine unvernünftigen Patienten, die das Krankenhaus lästern, weil es auch andere Kranke beherbergt und die anderen Kranken ausspotten, weil sie an derselben Krankheit leiden wie wir. Wir haben unseren Platz in der Heilanstalt Kirche. Gönnen wir auch den übrigen Kranken einen Platz in diesem Krankenhaus!