Der europäische Wassersack

So, ich muss jetzt los, bevor der Gemüsehändler zumacht – schnell noch ein paar rote und grüne Wassersäcke fürs Abendessen kaufen. „Was, bitte, ist ein Wassersack?“ mögen sich Einige jetzt verwirrt fragen. Ganz einfach: geschmacksneutrale Pflanzenmasse, mit Dihydrogenoxid vollgesogen (im Volksmund auch einfach Wasser genannt) und von einer Haut oder Schale umgeben, die ein vorschnelles Auseinanderfließen verhindert.

Bis vor Kurzem nannte man die Dinger noch Gurken und Tomaten, doch diese sprachlichen Feinheiten können wir uns jetzt sparen. Denn alles was aus Hohlland, Sparnien, Irrtalien und Konsorten kommt (ich will mir jetzt bloß keine Klage einhandeln!) und seit ein paar Jahren den rumänischen Markt überschwemmt, hat jetzt EU-Standard und EU-Einheitsgeschmack. Davon gibt es der Einfachheit halber nur noch zwei Grundrichtungen, nämlich einmal „à la Apotheke” (so schmeckt alles, was man früher komplizierterweise als Kartoffel, Blumenkohl, Kohlrabi und Rettich unterschied) und „neutral” (also die ehemaligen Tomaten, Gurken, Auberginen und Zucchini).

Der neutrale Wassersack kann auch von jenen verzehrt werden, die gar keine Tomaten, Gurken und Zucchini mögen, denn jedwede Spur von Geschmacksbelästigung wurde nach jahrelangen Forschungsarbeiten erfolgreich herausgezüchtet. Der europäische Wassersack ist außerdem so mild, dass Sie getrost Ihr Baby im Salat baden können, er schäumt nur ganz leicht.

Wer den Weg zum Gemüsehändler mal nicht schafft und trotzdem dringend etwas Vegetarisches auf den Tisch bringen möchte, kann die Pflanzenmasse des Wassersacks notfalls auch durch einen feinporigen Badeschwamm ersetzen. In Scheiben geschnitten, paniert und mit Bechamelsoße aus der praktischen Tüte angerichtet, ist dieser kaum von einem echten Auberginenschnitzel zu unterscheiden. Statt dem Tütensoßenpulver geht notfalls auch Kalk oder Gesichtspuder, Hauptsache die Farbe stimmt.

Nun wird mir auch klar, warum man immer noch zwischen grünen und roten Wassersäcken unterscheidet – das Auge isst schließlich mit! Warum Wassersäcke meist rund sind, ist mir allerdings unerklärlich. Kann man sie nicht auch quadratisch züchten, damit sie sich im Kühlschrank besser stapeln lassen und nicht ständig davonrollen?

Der europäische Wassersack erfreut sich in Rumänien offenbar so großer Beliebtheit, dass die Äcker in ganzen Landstrichen brach liegen, weil die Leute die Nase voll haben von den heimischen Tomaten und Gurken mit Geschmack. Es kauft sie ja keiner mehr, seit überall Wassersäcke aus dem Ausland erhältlich sind!

Doch dem kann Abhilfe geschaffen werden, denn wirklich fortschrittliche rumänische Bauern haben sich natürlich längst Saatgut für den europäischen Wassersack beschafft. Allerdings ist es ihnen noch nicht geglückt, die letzten Spuren von Geschmack aus den  Wassersäcken herauszuzüchten. Nur nicht verzagen, liebe Landwirte, das wird euch schon auch noch gelingen!