Der segenbringende Blutsauger

Hirudotherapie – über ein Tier mit außergewöhnlichen Heilkräften

Dr. Șeremet demonstriert die Punkte, an denen die Blutegel zur Heilung verschiedenster Krankheiten angesetzt werden.

Ein mit Saugnäpfen und Blutegeln gespickter Patient in der Bukarester Praxis des aus Bessarabien stammenden Arztes. Fotos: George Dumitriu

Suchend schiebt sich der glitschige schwarze Kopf über den Rand des Glases, zielsicher in Richtung Wärme. Sein vorderer Saugnapf heftet sich an mein Bein, der Rest gleitet elegant hinterher. Ich muss nicht lange warten, bis er  sich genau an der  Stelle festsetzt, die ich ihm zugedacht hatte: eine kleine, blaue Krampfader. Sein Biss ist kaum zu spüren. Mit gierigen Saugbewegungen stillt das Kerlchen nun seinen Bluthunger, während es wie ein leerer Sack hufeisenförmig an meinem Unterschenkel herunterhängt. Nach etwa einer halben Stunde lässt es los, gleitet träge an einer Schleimspur das Bein hinab. „Ab mit dir ins Einmachglas!“ lacht mein Mann und fängt das wie ein pralles Würstchen aufgeblähte Tier mit der hohlen Hand auf. Unser Mitbringsel aus dem Donaudelta hat gute Arbeit geleistet. 

Etwa 12 Stunden blutet die Wunde noch, doch  die Nachblutung soll man nicht stoppen, sie gehört zur Therapie. Die geringelte Ader ist  weg. Doch da mein Blutegel jetzt sechs lange Monate verdauen wird, muss ich mich um Nachschub kümmern. Diesmal nicht im Delta, sondern in der Bukarester Praxis eines alternativen Mediziners, der unter anderem für Hirudotherapie, wie man die Behandlung mit Blutegeln nennt, bekannt ist. Seit Jahren schon praktiziert der in Chișinău und Moskau ausgebildete Kardiologe, der die besondere Heilkraft dieser Tiere auf der Suche nach einem blutverdünnenden Mittel entdeckte, mit Blutegeln. Hirudotherapie ist in diesen Ländern  sogar Teil des speziellen Ausbildungszweiges Alternative Medizin. Seit 2001 therapiert er erfolgreich in seiner Bukarester Praxis und hält jährlich im September Kurse für interessierte Mediziner oder Laien ab, um sein Wissen weiterzugeben (www.seremet.ro). Denn hierzulande ist Blutegeltherapie noch weitgehend unbekannt, obwohl Rumänien zur Zeit Ceaușescus der größte Blutegelexporteur nach Deutschland war, verrät Dr. Șeremet. 

So alt und so vielseitig wie die Medizin selbst

Der Blutegel ist so alt wie die Heilkunst auf diesem Planeten. Schon in der Antike wurden die Tiere in allen Teilen der Welt zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Ob Imhotep im Alten Ägypten, der legendäre persische Arzt Ibn Sina oder  der griechische Hippokrates, Vater der modernen Medizin - sie kannten und schätzten den heilenden Blutsauger. Hirudotherapie ist Bestandteil fast aller alten Heilmethoden, etwa des indischen Ayurveda oder der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM).

 Heute weiß man, dass Blutegel mit ihrem Speichel 20 bis 30 großteils immer noch unerforschte Substanzen ins Blut abgeben, mit blutverdünnenden, antibiotischen, entgiftenden, organregenerierenden und entzündungshemmenden Eigenschaften. Viele von diesen kann man bisher nicht im Labor herstellen. Der bekannteste Wirkstoff ist der Gerinnungshemmer Hirudin. In Deutschland findet Hirudotherapie zunehmend Einsatz in der plastischen Chirurgie und der Schönheitsindustrie. Egal ob schlecht anwachsende, wiederangenähte Ohren, transplantierte Hautstücke oder eiternde Zähne – der Blutegel stimuliert das verletzte Gewebe, neue Blutgefäße zu bilden, weich und elastisch zu vernarben und schneller zu heilen. Doch Dr. [eremet ist überzeugt, dass der kleine Blutsauger sein Potenzial in der modernen Medizin noch lange nicht ausgeschöpft hat. „Hirudotherapie wirkt sich auf fast alle Erkrankungen günstig aus“, meint der  Mediziner, der auch sonst alternative, natürliche Heilmethoden bevorzugt. Gegenindikationen gibt es nur wenige – Hämophilie oder starke Anämie zum Beispiel – und auch Allergien sind äußerst selten. Sie lassen sich vor der Behandlung durch kurzzeitiges Ansetzen eines bereits vorgesättigten Blutegels feststellen. Auch Infektionen muss man nicht befürchten, zumal  für die Therapie ausschließlich Zuchtegel verwendet werden, die jeweils nur einmal zum Einsatz kommen. 

Zur Selbstbehandlung geeignet

In den meisten Ländern gilt der Blutegel per Gesetz als „Einwegprodukt“, klärt uns Dr. Șeremet auf. Während es in Rumänien  noch keine Regelungen gibt, weil Hirudotherapie hier weitgehend unbekannt ist und kein  Markt für Blutegel existiert,  sind die Gesetze in Rußssland außerordentlich streng. Dort ist der Arzt verpflichtet, den Patienten zu instruieren, den Egel nach der Blutmahlzeit persönlich umzubringen und sich auch noch zu versichern,  dass er wirklich tot ist. Dies für den Fall, dass der Patient die Therapie auf eigene Faust zuhause durchführt, was in der Regel möglich ist. In Russland kann man Blutegel im Internet bestellen oder in Arztpraxen und Apotheken erwerben. Die Tiere werden in großen Labors gezüchtet und in alle  Welt exportiert. Obwohl man einen Blutegel ganz einfach im Einmachglas halten und an sich selbst problemlos wiederverwenden könnte, darf der Arzt dazu nicht raten. „Bestimmt  stecken kommerzielle Interessen hinter dem Gesetz“, mutmaßt Dr. Șeremet. Denn Infektionen sind fast ausgeschlossen, selbst  bei freilebenden Exemplaren. „Der Blutegel speichert seine Mahlzeit in verschiedenen, durch Ventile getrennten Abteilen, von denen er eines nach dem anderen verbraucht“, erläutert der Mediziner. „Da es in den verschlossenen Blutkammern monatelang lagert, muss es mit speziellen Substanzen keimfrei gehalten werden, damit es nicht verdirbt. So lassen sich tatsächlich nach ein bis zwei Monaten keinerlei  Bakterien oder Viren mehr im in einem Blutegel gespeicherten Blut nachweisen.“ Mit dem Biß überträgt der Egel  diese antibiotischen Substanzen auch ins Blut des Patienten. Zudem sorgt die lange Nachblutung für eine zusätzliche Reinigung der Wunde.

Streng geschützter Überlebenskünstler

Freilebende Egel stehen mittlerweile auch in Rumänien  unter Naturschutz und dürfen nur für die Auffrischung einer Zucht in streng reglementierten Mengen gesammelt werden. Dies ist gelegentlich erforderlich, weil Zuchtegel, die ständig direkt mit Blut gefüttert werden, nach einigen Generationen ihren Beißreflex verlieren. Blutegel können bis zu  21 Jahre alt werden. In der Natur ernähren sie sich auch von Fischeiern, heften sich an Kröten, Vögel, Schnecken und Fische, doch am liebsten ist ihnen die warme Blutmahlzeit. In der Regel frisst ein Egel nur einmal alle paar Monate. Im Extremfall kann er bis zu zwei Jahre ohne Nahrung überleben. Blutegel fängt man in freier Wildbahn am besten, indem man sich ins kniehohe Wasser stellt und dieses mit einem Stöckchen aufwirbelt. Die auf den Bewegungsreiz anschwimmenden Exemplare können dann mit einem Käscher abgeschöpft werden. Wo man Blutegel findet, ist die Umwelt noch in Ordnung, denn die empfindlichen Tiere überleben nur in Gebieten mit hervorragender Wasserqualität. Hält man sie im Aquarium, darf auf keinen Fall gechlortes Wasser zugegeben werden. Auch bei der Blutmahlzeit sind Egel recht sensibel: das Blut von Rauchern, Trinkern oder Patienten, die Medikamente einnehmen, kann beim Egel Erbrechen auslösen oder sogar zum Tode führen. In mittelalterlichen Schriften wurde daher empfohlen, die Haut des Patienten mit Salz einzureiben, was den Blutegel dazu veranlasst, die giftigen Säfte gleich wieder hervorzuwürgen.

Blutegel “funken”  mit  Ultraschall 

Die faszinierendste Eigenschaft der Blutegel, die erst 2001 entdeckt wurde, ist jedoch seine Fähigkeit, Ultraschalltöne im Bereich von 40 bis 250 kHz auszusenden. Möglicherweise dient dies wie bei vielen anderen Tieren zum Zwecke der Kommunikation. Nachweislich zerstören diese Wellen jedoch Osteophyten, eine Art Knochenauswuchs bei Gelenksarthrose. Aus der Beobachtung, dass die Wellen außerdem krankes Gewebe zur Heilung anregen, entwickelte sich ein neuer Zweig der alternativen Medizin. Dr. Șeremet hält einen elektronischen Sender in Größe einer Zigarettenschachtel hoch, der sich auf verschiedene Frequenzen einstellen lässt: „Damit kann man viele Krankheiten ganz gezielt behandeln oder Bakterien abtöten“. Um in den Genuss der Blutegelfrequenzen zu gelangen, muss es nicht unbedingt zum Biss kommen. Wer die Tiere in einem Glas im Wohnbereich hält, wird bald feststellen, dass er sich ausgeglichener fühlt und besser schläft.

Nach langfristigen Anwendungen an Punkten entlang TCM-Meridianen oder den sogenannten „200 Wunderpunkten“ der chinesischen Medizin beobachtete man häufig, dass Süchte, Ängste oder Traumen, deren Ursache in der frühen Kindheit liegen, spontan aufgehoben werden. Forscher gehen daher davon aus, dass die Ultraschallfrequenzen der Blutegel nach und nach im Unterbewusstsein abgespeicherte Ingramme löschen, die dort bis zum siebten Lebensjahr angesammelt wurden.


Das Wunder der Organregeneration

Die spektakulärsten Erfolge beobachtete Dr. Șeremet jedoch in der Regenerierung kranker Organe. Vor allem Gewebe von Leber, Wirbel, Gelenken und  endokrinen Drüsen sprechen hervorragen auf Hirudotherapie an. „Bei Hepatitis verschwindet das Virus nach 24 Monaten und 20 Sitzungen aus dem Blut“, behauptet der Mediziner. „Die Wirbelstruktur regeneriert sich sogar schon nach 8-12 Monaten“. Bei Gefäßerkrankungen, Herzinfarkten und Schlaganfällen wirken die Tiere regelrecht Wunder. „In Russland hält man deshalb in allen Notaufnahmen Blutegel bereit“, berichtet Dr. Șeremet aus eigener Erfahrung. „Noch vor Diagnose und Therapiebeginn kommen die Tiere zum Einsatz. Die Resultate sprechen für sich: deutlich weniger Nachwirkungen, bessere Heilung und Vernarbung, weniger abgestorbenes Gewebe, was vor allem bei Herzinfarkten entscheidend ist.“ Viele Krankheiten eignen sich für eine Behandlung mit Hirudotherapie, so die Erfahrung des bessarabischen Arztes: Die Flüssigkeit, die das während des Blutsaugens transpirierende Tier abgibt, kann man zur Behandlung von Glaukom ins Auge träufeln; Bluthochdruck, Leberzirrhose, Epilepsie oder Gebärmuttermyome werden durch Ansetzen der Blutsauger auf entsprechende Reflexzonen oder Akupunkturpunkte erfolgreich therapiert. Bis zu zehn Egel können bei einer Sitzung zum Einsatz kommen. Die in der Praxis begonnene Anwendung kann der  Patient auch selbst fortsetzen. Für vier Lei das Stück bekommt er die kleinen Wunderheiler im Einmachglas mit nach Hause. 

Im gesetzlichen Niemandsland

Obwohl Blutegel leicht zu halten sind, lohnt sich ihre Züchtung in Rumänien derzeit nur bedingt. Im Gesetz sind sie nicht vorgesehen, anders als in Deutschland, wo der Blutegel  als „Medikament“ in Apotheken verkauft werden darf. Die wenigen hiesigen Firmen exportieren daher fast ausschließlich ins Ausland. Doch anstatt gegen den Missstand anzukämpfen, hat es sich Dr. Șeremet zur Aufgabe gemacht, sein Wissen einfach weiterzugeben. Jedes Jahr bietet er  daher Kurse  über den speziellen Einsatz der Blutegel an. „Wenn die kritische Masse der Anwender steigt, wird Hirudotherapie eines Tages ganz selbstverständlich sein. Dann kann uns auch der Gesetzgeber nicht mehr ignorieren“ meint der sympathische Mediziner mit der sanften Stimme und lächelt weise.