Die Wurzeln unseres Lebensbaums

Der schlesische Heimatschriftsteller Paul Keller (1873-1932) legt in seinem Buch „Insel der Einsamen“ dem Besitzer der Insel ein folgenschweres Wort in den Mund: „Der Eigennutz ist die Wurzel, aus der der ganze Baum des Lebens wächst. Man sollte nur Lohn und Strafe aus der Welt wegnehmen, und wir hätten lauter wilde Tiere!“ Stimmt das? Ein bekanntes Sprichwort unterstreicht diese Behauptung. „Jeder ist sich selbst der Nächste!“ Sind wir Menschen tatsächlich nur selbstsüchtige Wesen, die man nur mit Zucker und Peitsche, also nur mit Lohn und Strafe zusammenhalten kann? 
Das kann bei vielen Menschen wahr, bei vielen aber falsch sein. Es kommt auf die innere Einstellung jedes einzelnen Menschen an. Viele Menschen leben nach der negativen Devise, wie sie der Dichter Friedrich Wilhelm Weber darstellt: „Iss und beiß den Nebenesser, ist der Grundsatz, den ich übe!“ Wenn das wahr ist, dann hat der Besitzer der „Insel der Einsamen“ recht. Woher kommen solch fatale Grundsätze? Der Dichter gibt die Erklärung dazu: „Und ich lernt’ ihn bei den Menschen und dort heißt er Nächstenliebe!“ Um ihre Lehre zu rechtfertigen, pervertieren die Egoisten einfach die Direktiven. 

Das ist keine neue Erfindung. Schon der Prophet Jesaia, der im 7. Jahrhundert vor Christus in Israel wirkte, klagte und ermahnte: „Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen, die das Bittere süß und das Süße bitter machen. Weh denen, die in ihren eigenen Augen weise sind und sich selbst für klug halten!“ Alle Menschen, die in dieses kurze, unsichere Erdenleben ihr ganzes Glauben und Hoffen legen und sich dabei für schlangenklug halten, werden am Ende als Toren dastehen. Davor warnt der erleuchtete Dichter Angelus Silesius (1624-1677): „Du Tor, was rennst du so nach Reichtum in der Welt? Du weißt doch, dass er bald in eitel Staub zerfällt! Du schlägst um ird’sches Gut das Ew’ge in den Wind! Richt’, ob ein größerer Tor sich zeigt, wie du so blind?“

Wir alle sind nicht als Kluge vom Himmel gefallen. Wir müssen uns belehren lassen. Es ist äußerst wichtig, auf welchen Lehrer wir hören. Es bieten sich viele an: Politiker, Wissenschaftler, Pädagogen, Philosophen und Schriftsteller. An Belehrern ist keine Not, sondern nur an solchen, die sich belehren lassen wollen. Welchem von den vielen sollen und wollen wir folgen? Schauen wir auf ihr Leben. Stimmen bei ihnen Lehre und Leben, also Worte und Taten, überein, so sind sie glaubwürdig. Gibt es solche überzeugende Lehrer und Vorbilder? Wir Christen kennen nur einen solchen Lehrer: Jesus Christus! Bei Ihm haben Lehre und Leben in einzigartiger Weise übereingestimmt. Nur Er konnte an seine Feinde die Aufforderung stellen: „Wer von euch kann mir eine Sünde nachweisen?“ Sie konnten es nicht. 

Deshalb soll Christus unser Lehrer sein! Er legt die Axt an die Wurzel des Eigennutzbaumes. Dieser muss gefällt werden, wollen wir keine Egoisten bleiben, die nur durch Strafparagraphen in Schach gehalten werden können. Er stellt hohe Anforderungen an uns. Die Geburt des guten Menschen ist nicht leicht, eher eine Schwergeburt. Christus erwartet von uns, dass wir lieber Unrecht leiden statt Unrecht tun; dass wir Böses nicht mit Bösem vergelten, denn das führt nur zu endlos bösen Taten. Er erwartet, dass wir böse Taten mit guten Taten beantworten; dass wir anderen Gutes tun, ohne dafür Gegenleistung zu erwarten. 

Das sind Forderungen, die unsere schwache Geisteskraft übersteigen. Aber Er, unser Lehrer, hat das, was Er von uns erwartet, selbst vorgemacht. Obwohl Er alle Macht besessen hat, wandte Er sie nur zum Wohl der Menschen an. Er hat keinem seiner Feinde auch nur ein Haar gekrümmt. Noch am Kreuz betete Er für seine Peiniger. Der große Kirchenlehrer Augustinus unterstreicht: „Er wollte nicht lehren, was Er selbst nicht war; Er wollte nichts fordern, was Er selbst nicht tat!“ Gibt es einen Lehrer, der noch mehr überzeugt? Noch etwas Wesentliches unterscheidet Christus von allen anderen Lehrern der Welt. Sie gleichen Wegweisern, die uns den Weg zeigen, wir sollen ihn gehen. Bei Jesus ist es anders. Er geht voran und sagt: „Folgt Mir nach!“

Was wollen wir tun? Auf unserer einsamen Erdeninsel im Weltall, in der unser „Baum des Lebens“ wächst, soll die Wurzel nicht aus „Eigennutz“, sondern aus „Liebe“ bestehen. Dann bringt dieser Lebensbaum nur „Früchte guter Taten“ hervor.