„Diese Beiträge ziehen Grenzen, statt Brücken zu bauen“

Über das verzerrte Balkanbild in deutschen Medien am Beispiel Bulgariens

Der Pferdewagen – in deutschsprachigen Medien ein häufig verwendetes Symbolbild für den Balkan, das dessen Rückständigkeit und Unterlegenheit suggierieren soll, meint zumindest Maria Endreva von der Fakultät für deutsche und skandinawische Studien an der St. Kliment Ohridsky-Universität in Sofia. Foto: George Dumitriu

Es ist ein heikles Thema und eine gewagte Theorie, mit der Maria Endreva aus Sofia ihr Publikum fesselt. Im Hörsaal „Umberto Eco“ der Germanistikfakultät an der Ovidiu-Universität Konstanza hätte man am Vormittag des 12. April eine Stecknadel fallen hören können. „Deutschland saugt bereitwillig die bulgarische Elite auf“, kommentiert die Vortragende in der anschließenden Diskussion. „Doch das Medienbild der Deutschen über Bulgaren, Bulgarien und den Balkan ist hartnäckig negativ.“

 

Bedient werden die ewig gleichen Vorurteile und Stereotypen, ob in Tageszeitungen, Nachrichtenmagazinen, sogar im Freitagabendkrimi: Bulgaren seien korrupt, kriminell, arm, schmutzig, rückständig, chaotisch – balkanisch eben. Längst steht der Begriff „Balkan“ als Synonym für Negatives. Abfällig spricht, schreibt, diskutiert man über „Balkanisierung“ und „balkanische Zustände“. Dies nicht nur in der objektiven Berichterstattung, wo Zahlen und Fakten im Vordergrund stehen, die man freilich auch gezielt als Bestätigung einer vorgefassten Meinung einsetzen kann. Selbst im „Tatort“ entpuppt sich die bulgarische Ermittlerin am Ende als Mitglied der Organisierten Kriminalität, andere Figuren mit bulgarischem Hintergrund sind Zuhälter, Prostituierte, Kriminelle, kritisiert Endreva. Bewusste Manipulation will sie den Medien nicht unterstellen, das seien Methoden eines nicht-freien Marktes. Doch was auf dem freien Markt geschieht, ist trotzdem nicht objektiv, klagt sie an: „Wenn vorgefertigte Modelle durch Statistiken und Bilder bestätigt werden, ist dies allenfalls scheinobjektiv.“ Guter Journalismus sollte einen Unterschied machen zwischen Image und Wirklichkeit, fordert Endreva. Den deutschen Medien wirft sie vor: „Diese Beiträge ziehen Grenzen, statt Brücken zu bauen.“


Zehn führende Online-Medien und TV-Sender in deutscher Sprache hatte die Wissenschaftlerin von der Fakultät für deutsche und skandinawische Studien an der St. Kliment Ohridsky-Universität in Sofia für ihre Studie untersucht, verrät sie ihrem Publikum auf der Konferenz „Deutsche Sprache und Kultur in Bessarabien, Dobrudscha und Schwarzmeerraum“, die vom 11. bis 13. April in Konstanza/Constanța stattfand (siehe auch ADZ 20.4.2019: „Kaum noch Deutsche, hohes Interesse an Deutsch“). Einen wissenschaftlichen Beweis kann sie für ihre Beobachtungen freilich nicht in Anspruch nehmen. Doch ein Denkanstoß ist es allemal. Ihre These: Deutsche Medien stützen sich auf Stereotypen vom Balkan, wobei negative Bilder der Unterwerfung der Behauptung der eigenen Überlegenheit dienen.


Mit zweierlei Maß gemessen: Bulgarien und Estland


Endreva führt mehrere Beispiele an. Während der bulgarischen Ratspräsidentschaft war das Interesse der Medien an diesem Land trotzdem spärlich, wenn überhaupt, dann als billiges Urlaubsziel. Während der Vorbereitung auf die Ratspräsidentschaft lag der Schwerpunkt nicht auf Inhalten, sondern auf Korruption. Ein Bericht über Bulgarien titelte: „Arm aber sexy“. Besonders häufig taucht der Pferdewagen in deutschsprachigen Medien als Symbolbild für den Balkan auf, das dessen Rückständigkeit und Unterlegenheit suggierieren soll, so Endreva.


An dieser Stelle drängt sich eine Frage auf: Welche Rolle spielt bei diesen Beobachtungen die Selbstperzeption der Anklägerin? Betrachtet sie als Bulgarin den Pferdewagen offenbar als Symbol für peinliche Rückständigkeit, mag dieser im Beobachter eines westlich geprägten Wohlstandslands mitunter auch andere Assoziationen auslösen: Freiheit, Romantik, Abenteuer, Naturverbundenheit.

In Bezug auf ihre Beobachtungen zur negativen Berichterstattung mag man sich zudem fragen, ob es nicht generell Usus der Presse sei, sich bevorzugt auf Negatives zu stürzen. Handelt es sich also tatsächlich um eine verzerrte Darstellung der Realität?

Endreva zog letztere Frage selbst in Erwägung und analysierte als Kontrollelement die Berichterstattung über ein Nicht-Balkanland: Estland. Und stellt fest: Obwohl Estland massive Probleme mit der russischen Minderheit hat und ca. 60 Prozent der Einwohner keine Staatsbürgerschaft besitzen, trotz einer mittleren Lebenserwartung von 60 Jahren und anderen bekannten Problemen, sieht das Medienbild über Estland in Deutschland ganz anders aus. Im Schwerpunkt der deutschen Berichterstattung über Estland steht die dortige elektronische Wirtschaft, findet sie heraus.


Und wie sieht die Realität für Bulgarien aus? Endreva zählt auf: Bulgarien gehört zu den fünf Ländern mit dem stärksten Wirtschaftswachstum Europas. Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ listete das Land unter den Top Ten Destinationen für Startups.


Bulgaren, einst „Preußen des Balkans“


Das Bulgarienbild der Deutschen war nicht immer schlecht, erfahren wir im Vortrag von Daniela Kirova von der Universität Schumen. Zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg herrschte ein reger deutsch-bulgarischer Wirtschafts- und Kulturtransfer in beiderseitigem Interesse. Der deutsch-bulgarische Handelsvertrag 1862 führte zur Ansiedlung zahlreicher Deutscher in Russe/Ruse, der bedeutendsten Donau-Hafenstadt, die sich alsbald zum Handels- Wirtschafts- und Kulturzentrum entwickelte.

Auch Alexander Prinz von Battenberg (1879-1886), Sohn des Prinzen von Hessen, Neffe von Zar Alexander II. und gewählter Fürst Bulgariens nach dessen Herauslösung aus dem Osmanischen Reich, unterstützte die Beziehungen zur deutschen Kultur und Wirtschaft. Die bulgarische Verfassung 1879 entstand nach preußischem Modell. Deutsche Schulen wurden in Sofia (1882), Russe (1883), Plowdiw (1901) und Varna (1918) gegründet. Deutsche Fachkräfte waren vor allem im Eisenbahnbau und als Architekten gefragt.


Nachdem Fürst Alexander I. nach dem Putsch 1886 abdanken musste, wurde Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha zum bulgarischen Fürsten (1887-1908) und späteren Zaren (1909-1918). Kirova zählt auf: 1887 wird die deutsch-bulgarische Kreditbank gegründet. 1889 wird die Hochschule in Sofia gegründet und zieht ausländische Wissenschaftler auch aus dem deutschsprachigen Raum an. Bulgarische Studenten werden zur Ausbildung nach Deutschland geschickt, viele werden später Minister. Bald sind die Bulgaren unter dem Spitznamen „Preußen des Balkans“ bekannt.


Zwischen 1890 und 1911 gilt das Deutsche Reich als zweitwichtigster Handelspartner Bulgariens. 1913 wird die deutsch-bulgarische Wirtschaftsvereinigung gegründet. 1914 wird das Deutsche Reich größter Staatsgläubiger Bulgariens. Bis zum Zweiten Weltkrieg werden zahlreiche bilaterale Wirtschaftsvereine gegründet, aber auch Organisationen zum Erlernen der deutschen Sprache und zur Pflege deutscher Kultur. Zwischen 1916 und 1918 gab es sogar eine deutsche Balkan-Tageszeitung.


Der Vortrag von Kirova endet hier, spinnen wir der Vollständigkeit halber den Faden der Beziehungen bis zum Zweiten Weltkrieg mit Wikipedia weiter: Im Ersten Weltkrieg kämpfte Bulgarien an der Seite Deutschlands. Nach dem verlorenen Krieg musste Ferdinand I. abdanken, Nachfolger wurde Boris III. (1918-1943) aus demselben Hause deutschen Adelgeschlechts, ebenso wie Simeon II. (1943-1946). Auch im Zweiten Weltkrieg kämpfte Bulgarien unter Boris III. an der Seite der Deutschen. 1944 erklärt das zuvor verbündete Land dem Dritten Reich den Krieg. Die Machtergreifung der Kommunisten 1946 beendete schließlich die bulgarische Monarchie.
Nach dem Ende des Kommunismus 1989 unterstützte Deutschland die Transformations- und Demokratisierungsbemühungen Bulgariens als Vorbereitung auf den EU-Beitritt. Der letzte bulgarische Zar, Simeon II. von Sachsen-Coburg-Gotha, war von 2001 bis 2005 als Simeon Sakskoburggotski Ministerpräsident der Republik Bulgarien.


Über den Zeitpunkt des Umschwungs der gegenseitigen Perzeption kann weder Kirova noch Endreva Auskunft geben. In der Diskussion am Ende der Vorträge wird die Vermutung angestellt, der Zweite Weltkrieg und der Kommunismus müsse das Bulgarienbild der Deutschen verändert haben.
Auch die Rolle des Selbstbildes seitens der Bulgaren wird hinterfragt. Endreva räumt ein, es gäbe auch in Bulgarien den Aspekt der Selbstgeißelung. Doch eigentlich seien die Bulgaren - als vielleicht einzige Nation – eher stolz auf die Zugehörigkeit zum Balkan. „Vom Schokoriegel bis zum Reisebüro schmücken sich viele Produkte und Firmen mit dem Namen ‚Balkan‘.“


Eine Art Zensur, über die man sprechen sollte...


Welche Schlussfolgerungen zieht Maria Endreva nun aus ihrer Analyse? „Das negative Balkanbild ist für den Westen wichtig, man will es gar nicht ändern.“ Und meint: Darüber müsse man sprechen. Zumal die Deutschen ständig von den Balkanländern fordern: Ihr braucht mehr Pressefreiheit! „Man hat das Gefühl, das Ziel der deutschen Presse sei, die Deutschen vor dem Balkan zu warnen, weil dieser Deutschland unterlegen sei.“
Endreva steht mit ihrer Ansicht nicht ganz alleine da. Schon während des Jugoslawienkrieges hatte sich der Schriftsteller Peter Handke gegen die Medien aufgelehnt. „Es war nicht nur ein Aufruf, auch die andere Perspektive zu zeigen, sondern auch ein Hinweis auf die immer noch bestehende westliche Hegemonialmacht und auf die Allmacht der Medienbilder in der Bildung der öffentlichen Meinung“, so Endreva. Ihr Urteil ist hart. Doch sie findet, nicht nur die Vorenthaltung der Information sei heutzutage eine Zensur, sondern auch die Belieferung der Menschen mit nebensächlichen und irrelevanten Informationen, was oftmals in der Darstellung der Region Südosteuropa zu beobachten sei.


Die Rache der Meinungsmacher


Aber wieso ist das Thema heikel? Der österreichische Schriftsteller und Dichter Peter Handke hatte sich mit seiner Kritik an der einseitigen Berichterstattung über die jugoslawischen Zerfallskriege seinerseits selbst ins Kreuzfeuer der Kritik begeben. Darum bemüht, die medial geschürten Bilder der Serben als „Täter“ und der Slowenen, Kroaten und Bosnier als „Opfer“ aufzulösen und nach Wegen der Versöhnung zu suchen, wurde er schnell selbst zur Zielscheibe der von ihm kritisierten Printmedien, analysiert der Zeithistoriker und Konfliktforscher Kurt Gritsch („Keine Gerechtigkeit für Peter Handke“, Nachrichtenmagazin „Hintergrund“, 6. 12. 2012). Und stellt fest: „Dabei hatte er hauptsächlich recht.“ „Auffallend ist, dass sich recht bald eine Phalanx von Printmedien gegen Handkes Thesen bildete, die von bürgerlichen bis hin zu linken Medien reichte“, so Gritsch. Handke wurde zur Persona non grata stigmatisiert, „und mit ihm zugleich jene Wenigen, die sich noch getrauten, dem Chor der Verdammung zu widersprechen.“ Zwar relativiert Gritsch, Handke habe sich selbst mit fragwürdigen Handlungen und Interview-Aussagen, in denen er sich mit Ironie der sachlichen Diskussion entzog, keinen Gefallen getan. Trotzdem entbinde dies niemanden der fairen Beurteilung.


Maria Endreva vermutet hinter der negativen Balkan-Berichterstattung keine absichtliche Manipulation, sagt sie. Trotzdem muss man sich eine Frage stellen dürfen: Wer sind dann auf dem freien Markt die Meinungsmacher, die so zäh an einem Medienbild festhalten? Die Tabus errichten, andere Meinungen nicht zulassen, jede Diskussion im Keim ersticken. Welche Interessen verfolgen sie? Wem nützt es? Wenn der Opponent in die Tabu-Ecke gedrängt wird, verschwindet das Problem nur scheinbar. Es brodelt weiter im Untergrund, verschafft sich andere Ventile: Nationalismus & Co.


Man muss Endrevas Sichtweise nicht teilen. Aber in einem hat sie recht: Man sollte darüber sprechen. Und Brücken bauen, statt Grenzen zu ziehen.