Ein Sommernachts-Albtraum 

Meldungen aus einem gestörten Land

Ein Mann, der in Crevedia an einem Herzinfarkt gestorben ist, als er am vorigen Samstag seine Frau in Flammen aufgehen sah, hatte sich zwei Jahre lang bei den Behörden über den unnatürlichen Gasgeruch in seinem Hof beschwert. Zwei Tage nach der Explosion der illegalen LPG-Tankstelle erlag die Frau ihren Verbrennungen. Während Feuerwehrleute den Brand zu löschen versuchten und es zur zweiten und dritten Explosion kam, ließ es sich eine Hochzeitsgesellschaft in etwa 500 Meter Entfernung gut gehen. An dem Inferno, das in unmittelbarer Nähe vor sich ging, nahm kein Feiernder Anstoß, obwohl die Rauchwolke selbst im Nordosten des 30 Kilometer entfernten Bukarest sichtbar gewesen sein soll. Über Facebook dankte man später Gott, dass er den Hochzeitsgästen wieder einmal gezeigt hatte, wie groß seine Liebe sei.

Eine 25-jährige Mutter von drei Kindern, die im dritten Monat schwanger war, wurde an einem August-Abend mit Schmerzen und Blutungen in ein Krankenhaus in Boto{ani eingeliefert, doch sie verstarb sieben Stunden später, weil sich kein Arzt ihrer annehmen wollte. Sie hatte die Ärzte angefleht, ihr zu helfen, doch sie wurde ihrem Schicksal überlassen. „Ich bekomme keine Luft mehr“, hatte sie ihrer Familie zuletzt geschrieben. Da erging es der Frau aus Urziceni, die in diesem Sommer auf der Straße vor dem Krankenhaus ihrer Kleinstadt entbinden musste, deutlich besser, schließlich leben sie und ihr Kind. Im Spital verweigerte man ihr jegliche Hilfe, aus welchen Gründen auch immer.

Im Schwarzmeerort 2 Mai, wo ein 19-jähriger Drogenabhängiger zwei Gleichaltrige in den Tod gerissen hat, hatte ein Bürger mitten in der Nacht den verhaltensgestörten jungen Mann am Steuer gesehen und sofort Alarm geschlagen, doch niemand kümmerte sich. Mehr noch: Der Fahrer wurde am frühen Morgen zwar aufgehalten, doch er durfte dem jetzigen Informationsstand nach weiterfahren, obwohl er keine Kfz-Haftpflichtversicherung hatte. Neben den anderen vorgeschriebenen Strafen muss in solchen Fällen das Auto sofort außer Betrieb gesetzt werden. Auf die Idee, den Mann auf den Konsum von Drogen zu testen, kam niemand. Oder durfte niemand kommen. Er fuhr direkt in die Gruppe Jugendlicher, die auf den Weg zum Strand war. Zwei Tote, mehrere Verletzte.

In Voluntari bei Bukarest hatten mehrere Nachbarn eines Horror-Altenheims alles, was sie dort sehen konnten, angezeigt. Ein Jahr lang hatten sie sich bei den zuständigen Behörden beschwert. Auch gerichtlich waren sie vorgegangen, weil sie keine behördliche Antwort erhielten oder die Beamten überhaupt kein Problem in der KZ-ähnlichen Behandlung der Insassen sahen. Die Qualen der dort untergebrachten Senioren gingen lange weiter, bis Sommeranfang. Der Pandele-Firea-Clan, der die Misere zu verantworten hat, sagte unter anderem, man habe es mit einer Hetzkampagne zu tun, weil sie Ikonen liebende Menschen seien.

Entlang der Schwarzmeerküste sind in einer einzigen Augustwoche acht Menschen ertrunken, die Bilanz seit Saisonbeginn liegt bei einigen Dutzend. Mehrere Touristen lieferten sich eine Schlägerei mit Polizei und Gendarmerie direkt am Strand, weil sie bei großer Gefahr unbedingt ins Meer wollten und die Rettungsschwimmer sie davon abhielten. Wer nicht das Unglück hat, von seinen Mitbürgern umgebracht zu werden, kann sich sein Leben selbst nehmen und bei roter Flagge ins Meer springen. Leichtfertigkeit ist Schönrederei, Dummheit ist angemessen.

Auf einem Baggerteich südlich von Arad verlor ein 29-Jähriger sein Leben, nachdem er gemeinsam mit Freunden den Wächter der Anlage überzeugen konnte, ihn auf dem Teich mit einem Skijet fahren zu lassen. Er fuhr mit großer Geschwindigkeit gegen ein über das Wasser gespanntes Kabel, das einen Bagger festhielt, und war sofort tot. Nach seinem abgetrennten Kopf suchten Taucher lange.

All das geschah in den vergangenen Wochen in Rumänien, das mit gutem Recht ein „Land tödlicher Improvisationen“ genannt wurde (Deutsche Welle, 29. August). Tödliche Improvisationen, Pfusch und Korruption, resümieren die Medien und man kann dieses Fazit kaum noch verneinen. Rumäniens gestern zu Ende gegangener Sommer war traurig. Inflation, Parteigezänk und Reformstau muss man da gar nicht mehr erwähnen.

Die Einsicht, die in einem schon längst blühte, die man aber aus dem einfachen Grund der Erträglichkeit verdrängt, ja, verdrängen muss, bekommt man aufs Neue bestätigt, immer wieder: Der Staat traut seinen Bürgern nicht, er nimmt sie nicht ernst, seiner Schutzpflicht kommt er allzu selten nach. Man beschwert sich und bekommt keine Antwort. Man weist auf himmelschreiende Ungerechtigkeiten, auf Gesetzeswidrigkeiten, auf grobe Fahrlässigkeit und auf jahrelanges Nichtstun hin und wird ignoriert. Man prozessiert gegen Verwaltungsbehörden, hat das unerhörte Glück zu gewinnen und die Behörden ignorieren Gerichtsurteile. Wer schwache Nerven hat, sollte es lassen.

 Und dann passiert es, wie vorige Woche in Crevedia, wie 2015 im Bukarester Lokal „Colectiv“ oder wie bei den Bränden auf Entbindungsstationen (der schlimmste, in der Bukarester Geburtenklinik „Giulești“, erfolgte im August 2010, doch es gab auch andere). Man weist sich gegenseitig die Schuld zu, es laufen Ermittlungen und manchmal gibt es auch Prozesse. Der Staat schickt seine Vertreter vor die Kameras und es wird Abhilfe versprochen. Krankenhäuser sollen gebaut werden, dieses Mal für Schwerbrandverletzte, wie der an Dreistigkeit schwer zu überbietende Premierminister Marcel Ciolacu jüngst angekündigt hat. Was aus den 2015, nach dem „Colectiv“-Brand, versprochenen Spitälern für Schwerbrandverletzte geworden ist, lässt sich schwer sagen. Manchmal werden Kontrollen angeordnet, Überprüfungen, Inspektionen und natürlich auch Sanktionen. Irgendeiner kündigt, irgendeinem anderen wird gekündigt. Und dann geht es von vorne los, es ist derselbe Sumpf, nur scheint er immer tiefer zu werden. Ein Staats-Sumpf, sozusagen. Oder, mit den Worten des Staatsoberhauptes, ein gescheiterter Staat. Schade nur, dass der seit fast neun Jahren amtierende Präsident Klaus Johannis diesen Staats-Sumpf mitzuverantworten hat. Schade auch, dass der im Allgemeinen mit sich selbst äußerst zufriedene Präsident von seiner Formel vom gescheiterten Staat nichts mehr wissen will und sie als Wahlkampf-Parole von Oppositionspolitikern abtut. Sie ist es nicht, denn einen Wahrheitsgehalt hat sie zweifelsohne. Nicht alles läuft schief in diesem Land, aber doch Vieles und die Folgen der Misere entfalten mitunter eine tödliche Wirkung.

Dass viele Bürger über ihr Land Ähnliches denken und empfinden, hat nichts mehr mit der schieren Schwarzmalerei aufmerksamkeitsgeiler Medien zu tun, sondern ist inzwischen eine kaum zu überwindende Realität. Die Gesellschaft ist krank und dem Staat dürfte es noch schlechter gehen. Wer nicht an der Fahrlässigkeit staatlicher Behörden zu Grunde geht, die, wie in Crevedia, von nichts wussten und auch nichts taten, weil die Tankstelle einem PSD-Bonzen, bzw. dessen Sohn gehörte, und wer nicht im Meer ertrinkt oder auf einem Baggerteich aus Selbstschuld geköpft wird, kann leichterhand von einem unter Drogeneinfluss stehenden Jugendlichen umgebracht werden, dem die Eltern ein teures Auto geschenkt haben. Inbegriffen ist die Gewissheit, dass einem nichts geschehen könne, weil Papa und Mama an den richtigen Hebeln sitzen und über genug Geld verfügen, um den Sohn aus jedwedem denkbaren Schlamassel zu ziehen. 

Nun, Rumäniens Gesellschaft hat den Staat, den sie verdient, denn der Staat ist ja nichts als eine Abstraktion, eine gescheiterte zwar, aber nur eine Abstraktion. Es gibt keine Behörden, es gibt Beamte. Es gibt keine Regierung, es gibt Minister. Es gibt keine Gerichte, es gibt Richter. Bürger, die dem Staat ein Gesicht verleihen. Der Behörde und dem Gericht, dem Ministerium und der Stadtverwaltung. Bürger, die von ihren Mitbürgern nicht allzu viel halten, sie nicht ernst nehmen, sie beklauen und sich an ihnen bereichern. Die blind und taub sind, wenn sich die Regierten beklagen. Die nichts wissen, nichts hören, nichts sehen und auch nichts tun können. Das Ergebnis? Pfusch, Korruption und tödliche Improvisationen, um es mit der Deutschen Welle zu halten. Die bittere Ironie ist, dass ein nicht geringer Teil rumänischer Jugendlicher von einer Karriere beim Staat träumt. Ein Posten in der Verwaltung bietet zwei Szenarien. Im schlimmsten Fall: eine nicht besonders gut bezahlte Stelle, aber dafür eine sichere. Man döst vor sich hin, übernimmt, soweit es geht, keine Verantwortung und wenn etwas passiert, schiebt man anderen die Schuld zu. Im besten Fall: eine Stelle, die Einflussnahme erlaubt, die einem erlaubt, Freunde zu unterstützen und auch Unterstützung zu verlangen, wenn es darauf ankommt. Man arrangiert sich. Derzeit scheint die große Koalition aus PSD und PNL auf Jahre hinaus zementiert zu sein, so dass man sich wirklich keine Sorgen mehr machen muss. Für einige läuft alles wie am Schnürchen, wie die Hochzeitsfeiernden von Crevedia überzeugend bewiesen haben. 

Das Land taumelt aber von einer Tragödie in die nächste. Noch war man mit dem tragischen Unfall von der Küste beschäftigt, als im Kreis Alba ein betrunkener, 19-jähriger Fahrer in der Nacht von Samstag auf Sonntag drei Jugendliche umbrachte und drei weitere schwer verletzte. Doch die Tankstelle in Crevedia war nur wenige Stunden davor explodiert, so dass man von diesem anderen Autounfall nicht mehr viel zu hören bekam. Eine Albtraum-Meldung aus einer Albtraum-Sommernacht. Mehr nicht.