Eine haarige Geschichte

Am letzten Montag dolmetschte ich wieder einmal für die Polizei. Es war ein ziemlich eigenartiger Fall. Ein Rumäne hatte sich am vorherigen Nachmittag ordentlich voll laufen lassen, und nachdem er den Zustand der absoluten Glückseligkeit erreicht hatte, beschloss er diesen möglichst lange hinauszuzögern. Also begab er sich schnurstracks aber nicht gerade in einen Discounter-Laden und griff sich dort zwei Flaschen Obstler, mit denen er den Laden wieder verlassen wollte. Entspannt und locker lief er an der Kasse vorbei, ohne die Kassiererin eines Blickes zu würdigen und suchte das Weite. Das er natürlich nicht fand, denn da er im Zickzack lief und den Weg zum Ziel dadurch erheblich verlängerte, erreichte ihn die Ladenbedienung im Handumdrehen.

Nun saß er also vor mir, in einem Büro des Düsseldorfer Polizeipräsidiums, er hatte die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht und roch immer noch nach Hochprozentigem. Er hieß Petre Mocan und kam aus Călăraşi. Auf die Frage des vernehmenden Kommissars, wieso er den Obstler entwenden wollte, erklärte er auf Rumänisch: „Man hatte mich zu einem Geburtstag eingeladen, und ich wollte nicht mit leeren Händen hingehen.“ Ich dolmetschte es. „Herr Mocan muss unheimlich viele Freunde haben, denn man lädt ihn auffallend oft zu Geburtstagen ein“, sagte der Kommissar zu mir. Dann warf er einen Blick in den Computer und fügte zu meiner Verblüffung hinzu: „In den letzten zwei Monaten hat man ihn vierzig Mal beim Entwenden von Spirituosen erwischt.“ Die Vernehmung verlief wie im Fluge, denn Petre Mocan gab das ihm Angelastete sofort und ohne Einschränkungen zu, und da er die Tat ja im Rausch begangen hatte, und nicht im Sinn gehabt hatte die entwendete Ware gewinnbringend zu veräußern, sondern sie einzig und allein zum Stillen des eigenen Dursts zu konsumieren, ließ man ihn wieder laufen. Ich unterschrieb für die Richtigkeit der Übertragung ins Deutsche, verabschiedete mich vom Kommissar und war froh, dass ich noch Zeit genug übrig hatte, um an diesem Morgen endlich meinen Frisör auf der Bilker Allee aufzusuchen. Meine inzwischen nach allen Seiten stehenden Haare sahen einfach verboten aus.

Mein Frisör ist Türke, er heißt Erdal. Früher arbeitete er mit einem Freund zusammen, namens Bulut, der aber vor einigen Monaten mit seinen Ersparnissen wieder in die Türkei zurückgekehrt war, und nun in Side deutschen Touristen die Haare schnitt. An Buluts Stelle war nun ein anderer Türke im Frisörsalon tätig geworden, aus mir unerfindlichen Gründen nannte man ihn Helmut. Aber wahrscheinlich war das bloß sein Spitzname, ich weiß es nicht. Wie auch Erdal sprach Helmut nur sehr brüchig Deutsch, was ich als sehr entspannend empfand, denn von ellenlangen, verschachtelten Sätzen hatte ich durch meine häufigen Übersetzungen von Anklageschriften mehr als genug.

Auf Erdals Drehstuhl wurde Ginos dunkles, feucht glänzendes Haar zur Seite gekämmt. Ich kannte Gino, denn er besaß drei Häuser weiter eine Pizzeria, die aber erst um 12 Uhr öffnete. Auf Helmuts Stuhl hatte ein Mann mit asiatischem Antlitz Platz genommen, ansonsten gab es keine andere Kunden im Laden. Das Haupt des Asiaten war mit einem braunen Schaum bedeckt, den Helmut eifrig in die Kopfhaut einmassierte, seine Finger bewegten sich wie Blitze. Ich wollte die Zeitung lesen, sie war aber auf Türkisch, dann entdeckte ich nebenan eine deutsche Boulevard-Zeitung und schaute hinein. „Euphorie in Schweden! Schweden belegte ersten Platz beim Eurovision Song Contest mit Euphoria“, sprang mich eine Schlagzeile an. Dann entfernte Erdal Ginos weißen Umhang und bat mich, an dessen Stelle Platz zu nehmen.

In den nächsten Minuten stellte sich rasch heraus, dass nicht bloß in Schweden zurzeit große Euphorie herrschte, sondern offensichtlich auch in diesem Frisörladen, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Erdal, Helmut und der asiatische Kunde hatten sich in eine eigenartige Diskussion über Heimat und Tradition vertieft, die sie über alle Maßen erheiterte.

„Japan gut! Super Japan!“, sagte Erdal zum Asiaten. „Du Japaner?“

„Hihihi“, lachte der Mann. „Jaja. Ich Japaner.“

„Ich Türkei. Türkei prima!“, schaltete sich Helmut ein. „Deutschland Regen. Scheißregen.“

Beim Wort Scheißregen brachen sie alle drei in Gelächter aus. Doch nach einer kurzen Pause legte Erdal seine Stirn in Falten und mit besorgter Miene fragte er plötzlich den Japaner: „Du kennen Osmanische Reich?“

„Wer reich? Du reich?! Hahaha“, lachte daraufhin der Japaner.

„Huhu, Erdal reich“, lachte Helmut.

„Nein. Osmanische Reich! Du Japan nix Schule?!“, staunte Erdal. „Du nix wissen Atatürk? Atatürk Vater von Türken.“

„Japan nix Schule. Japan Samurai. Samurai, Mafia “, erklärte Helmut lautstark und zielte mit dem Zeigefinger auf den Japaner. „Bumm!“, machte er, und wieder lachten sich alle drei halbschief, und ich musste plötzlich mitlachen.

„Du nix bewegen!“, ermahnte mich Erdal und erhob bedrohlich die Schere über meinen Kopf. „Wenn du bewegen, dann ich mache Frisur kaputt.“

Dann wandten sich die beiden wieder dem Japaner zu.

„Japan Harakiri“, sagte Helmut und ich sah im Spiegel, wie er Erdal zublinzelte. „Du wann machen Harakiri?“

„Hihihi“, lachte der Japaner. „Ich nix Harakiri. Frau Harakiri. Wenn Frau nicht gut im Bett, morgen ich Frau Harakiri.“

Jetzt gab es kein Halten mehr.

„Hihihi“, lachten der Japaner und Helmut.

„Hahaha“, brüllte Erdal mit rotem Kopf.

„Huhuhu“, lachte ich mit, dass mein weißer Umhang nur so flatterte.

„Du nix bewegen. Wenn du bewegen, ich mache Kopf kaputt“, drohte Erdal und fuchtelte mit dem Rasiermesser vor meinem Gesicht herum.

Da der Satz über das Harakiri und die Frau des Japaners im allgemeinen Lachgebrüll gebetsmühlenartig ungefähr fünfundfünfzig mal wiederholt wurde, büßte das Gespräch in den nächsten Minuten erheblich an Substanz ein, und irgendwann war dann Erdal mit meinem neuen Haarschnitt fertig und hielt mir einen Handspiegel in den Nacken, damit ich mich auch von hinten sah. Meine neue Frisur war derart miserabel ausgefallen, dass nichts mehr daran zu richten war. Es sei denn, ich hätte mir eine Glatze rasieren lassen, aber das kam nicht in Frage, denn ich wollte ja nicht wie ein Sumo-Ringer aussehen. Oder rasieren diese sich gar nicht glatt, sondern eher die Shaolin-Mönche? Egal.

Um den Frust über meine gewöhnungsbedürftige Frisur mindestens teilweise zu verkraften, beschloss ich mir eine Flasche guten Wein zu kaufen und sie mir danach zu Hause in aller Ruhe zu Gemüte zu führen. Ich lief an Ginos Pizzeria, der mir aus der Tür zuwinkte, vorbei, betrat kurz danach einen Discountladen und schritt auf die Getränkeabteilung zu, als ich plötzlich ein paar Schritte weiter ein mir wohl bekanntes Gesicht entdeckte. Es war Petre Mocan. Mit einer Flasche Schnaps in der Hand taumelte er euphorisch auf den Ausgang zu. Nun ja, das Weintrinken konnte ich erst mal vergessen, in einer Stunde würde ich wieder dolmetschen müssen.