Eine Stimme für Bären und Bäume

Wie man mit eigenem Vorbild die Liebe zur Natur in jungen Leuten weckt

Für das Retezat - eines der letzten von der Zivilisation unberührten Naturparadiese Europas - lohnt es sich zu kämpfen.

Spielerisch lernen die Kleinen im Ferienlager über die Umwelt.

Zauberhaft und wild präsentiert sich die Natur im Retezat.

Sich als Teil der Natur zu begreifen müssen Stadt- und Landkinder gleichermaßen lernen.
Fotos: Wildtime

Sie kämpft an vielen Fronten: Widerstandslager gegen den Bau der DN66 durch einen der letzten jungfräulichen Urwälder Europas im Retezat. Die Klage gegen die Nationale Umweltschutzbehörde, die zugunsten des Straßenbaus einen falschen Bescheid ausgestellt hat. Dann die mühsame Überzeugungsarbeit bei den lokalen Einwohnern, dass eine intakte Natur, Bären und Wölfe, lokale landwirtschaftliche Produkte, Traditionen und Ökotouristen langfristig heilbringender sind als die Straße zum sogenannten Fortschritt.

Freiwillige Helfer wollen koordiniert werden, Transporte und Zelte organisiert. Telefonate, Korrespondenz, Pressearbeit, Buchhaltung. Doch die 27-Jährige beklagt sich nicht. Für all dies hat sie einen gutbezahlten Job bei einem internationalen Pharmakonzern an den Nagel gehängt. Ihr Leben möchte sie sinnvolleren Zielen widmen als Konsum, Unterhaltung und Komfort, bekennt Raluca Nicolae. Statt dessen kämpft sie nun für die Rettung eines der letzten Naturparadiese  Europas – und für seine Bewohner, die ihre Stimme nicht im Gerichtshof erheben können: wilde Bären, jahrhundertealte Bäume, Luchse und Wölfe...

„Wir sind zu Gast in der Natur“, instruiert die Bukaresterin die Kindergruppe auf der Wanderung, „deswegen müssen wir uns auch so benehmen!“ Kein Wegwerfen von Schokoladenpapier also, kein Lärmen, kein Schreien, Schnecken werden nicht zertreten und Blumen nicht mutwillig ausgerissen.

„Im Januar 2013 haben wir wieder ein Ferienlager im Retezat“ erzählt Raluca Nicolae begeistert. Erstmals im Winter! Das bedeutet Fährtensuche von Wildtieren im Schnee, Schlittenfahrten und Wanderungen durch watteweiße Landschaft, Schatzsuche, Spiele und Wettbewerbe, bei denen alles um die Umwelt kreist. Ihre Begleiter sind Fremdenführer aus der Region, ausgebildet mit der Hilfe von Agent Green, der Umweltorganisation, für die sich Gründermitglied Raluca seit 2009 engagiert. Viele der Guides sind Ranger im Nationalpark Retezat oder Mitglieder der Bergrettung Salvamont.

Lebhaft erzählt die junge Frau von Themenpfaden durch den Wald, befestigten Steigen zu wilden Schluchten oder gischtspritzenden Wasserfällen, die im Retezat mithilfe von Agent Green entstanden sind. Oder von Pensionswirten wie Cristian aus Câmpul Lu’Neag, die mittlerweile meinen, sie bräuchten die DN66 gar nicht. Lieber seien ihnen Kindergruppen und ausländische Gäste, wie sie ihnen Wildtime bisher vermittelt hat. Ja, zu den Aktivitäten im Rahmen des Naturschutzes kommt für Raluca nun auch Wildtime dazu – der unternehmerischer Teil eines von sieben Pilotprojekten in Rumänien, die eine Umweltschutzorganisation und eine kommerzielle Struktur in beiderseitigem Interesse vereinen sollen.

Einsatz für die Rechte wilder Tiere

Ihr Weg als Naturschützerin und Unternehmerin begann vor etwa vier Jahren, als sie und zwei Freunde, Anca Şerban und der erfahrene Umweltschützer und ehemaliges Greenpeace Mitglied Gabriel Păun, die NGO Agent Green ins Leben riefen. Als Hauptziel ihrer Aktionen wählten die jungen Leute das Retezat in Siebenbürgen. Eine wissenschaftliche Studie über die letzten Urwälder Europas mit jahrhundertealten Bäumen, Bären, Luchsen, Mardern und Wölfen hatte sie tief beeindruckt: Sie warnte vor dem Vordringen der Zivilisation durch Straßenbau und Besiedlung, was in der Schweiz zum Verlust eines ähnlichen, einzigartigen Paradieses geführt hatte.

Genau dies drohte dem rumänischen Naturpark durch den Bau der DN66, die laut Forschern den Hauptwanderweg der Bären direkt durchschneidet.  Mit finanzieller Unterstützung der Romanian American Foundation und der Fundaţia pentru Parteneriat gelang es Agent Green schließlich, einen dreimonatigen Sitzstreik vor Ort zu organisieren. Etwa 50 Studenten besetzten das Zeltlager rund um die Uhr mit 10 bis 15 Personen und traten mit Protestplakaten bewaffnet im Bärenkostüm gegen die vorrückenden Bautrupps an.

Mit Erfolg! Die Arbeiten wurden bis auf Weiteres eingestellt, zumal sie auf einem falschen Bescheid beruhten, ausgestellt von der Nationalen Umweltschutzbehörde (ANPM), die behauptet hatte, die Straße würde die Wanderungen der Wildtiere nicht beeinträchtigen. Zusammen mit anderen Umweltschutzorganisationen verklagte Agent Green die Behörde - und erhielt Schützenhilfe von der Organisation Greenpeace, die unabhängig davon ebenfalls Klage eingereicht hatte. „Die Gerichtsverhandlung ist am 14. Dezember“ erklärt Raluca Nicolae. „Die Chancen stehen nicht  schlecht,  den Prozess zu gewinnen“, fügt sie zuversichtlich hinzu.

Ein vielleicht zukunftsträchtiges Tandem

Wie funktioniert eine Kooperation zwischen einer NGO und einem auf Gewinn ausgerichteten, kommerziellen Unternehmen? Eine ungewöhnliche Idee, gibt auch Raluca zu. Nicht nur, dass ihr Wildtime mittlerweile ein kleines Gehalt beschert, mit zunehmendem Erfolg soll auch Agent Green – bisher zu 100 Prozent von Geldgebern abhängig – durch das Modell finanziell eigenständig werden.

Denn der Gewinn von Wildtime soll den Aktionen von Agent Green direkt zugute kommen. Hinter dem Pilotprojekt steht die Romanian American Foundation, die sieben ähnliche Tandems – darunter auch die Vereinigung „Ivan Patzaichin - Mila 23“ und das Rowmania-Tourismuszentrum in Crişan – unterstützt. Zwei Jahre werden die Projekte intensiv begleitet, durch Experten und Gelder unterstützt, danach folgen drei Jahre Monitoring aus dem Hintergrund. „Wir sind die Versuchskaninchen“,  lacht Raluca Nicolae, denn wenn sich das Modell bewährt, sollen weitere Tandems gegründet werden.

Dank Financiers, Internetauftritt und nicht zuletzt der Presse mangelt es nicht an Publicity. Begeistert erzählt die Naturschützerin von einem Ausflug im Juli 2012 mit drei Botschaftern aus Venezuela, Kasachstan und den Arabischen Emiraten, um das Retezat als Ziel für Touristen aus diesen Ländern bekannt zu machen. Aktionen, die als Seriositätszeichen für potenzielle Kunden wirken.

In diesem Sommer schickte die frischgebackene Tourismusagentur erstmals eine Gruppe ausländischer Wanderer ins Retezat: 17 Leute, die mit dem Flugzeug anreisten und ein paar Tage in einer Hütte verbringen wollten. Ob sternförmige Tagestouren oder mehrtägige Routen, das Team von Wildtime passt sich individuellen Wünschen an

. Nahegelegt wird jedoch stets ein professioneller Führer, für deren Ausbildung und englische Sprachkompetenz wiederum Agent Green sorgte. Und natürlich die Pensionen, die Lebensmittel aus lokaler Produktion anbieten. „Vermittelt wird, wo wir uns selbst vor Ort wohlgefühlt haben“, meint die Umweltschützerin. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Vielleicht halten die Arbeitsplätze, die durch Ökotourismus entstehen, einige Menschen davon ab, weiterhin illegalen Holzhandel zu betreiben.“

Brutkasten für Naturschützernachwuchs

2011 organisierte Agent Green erstmals ein Ferienlager für Kinder – ein Versuchsballon mit Blick auf die zu gründende Tourismusagentur. Ein Sportlehrer an der Bukarester Allgemeinschule „I. L. Caragiale“ ließ sich sofort begeistern und warb für Teilnehmer. Mit ihm und 20 Kindern im Alter von elf bis 15 Jahren ging es ab ins Retezat. Gabriel Păun und Anca Şerban betreuten die Gruppe, während Raluca noch beruflich an Bukarest gefesselt war.

Immer öfter spielte sie mit der Idee, ihren freudlosen Job aufzugeben...
Das Ferienlager erwies sich als großartiger Erfolg. Begeistert engangierten sich die Kinder in Workshops, erdachten Themenpfade, für die sie in Ateliers Tafeln bastelten und entwickelten auf diese Weise spielerisch mehr Bewusstsein für die Natur. Wie verhalte ich mich bei der Begegnung mit Wildtieren? Woher kommen Milch und Eier?

Was brauche ich für einen Ausflug ins Grüne? Wie orientiert man sich mit Kompass und Karte? Wie baut man ein Zelt auf? Solche und ähnliche Fragen erschlossen sich den Kleinen auf spielerische Weise. Viel Spaß gab es auch bei Schnitzeljagden und interaktiven Spielen.

Bei einem Besuch im Supermarkt erklärte ihnen Gabriel Păun den Code der Eierstempel: je höher die erste Ziffer, desto unnatürlicher wurde das Huhn gehalten und desto belasteter seien die Eier. Raluca Nicolae lacht: „Noch Wochen später riefen Eltern bei mir an und fragten, was habt ihr mit meinem Kind gemacht? Es ißt nur noch Eier mit Code 0...!“ Also von Hühnern aus Freilufthaltung mit ökologischem Futter. Früh übt sich, was ein Naturschützer werden will...

Das bestätigte auch das erste Sommerlager von Wildtime im Juli 2012, an dem diesmal nicht nur Kinder aus einer Schule, sondern aus verschiedenen Regionen des Landes teilnahmen. Großartig fand Raluca den freundschaftlichen Wettbewerb zwischen Stadt- und Landkindern, wie sie von ihrem unterschiedlichen Hintergrund lernten und gegenseitig Anteil nahmen.

Motivationsprobleme gab es nicht, obwohl es ausgerechnet am Wandertag in Strömen geregnet hatte. Disziplinarische Probleme auch nicht, denn am ersten Tag wurden die Regeln auf einem Flipchart klargemacht. Wer dagegen verstieß, musste frühmorgens ums Haus joggen oder für alle den Abwasch erledigen. So ließ sich die bunte Truppe gut in den Griff bekommen.

„Nach dem Lager haben sich einige sogar als Volontäre bei Agent Green eingeschrieben“, freut sich die junge Naturschützerin. Dem Ferienlager vom 7. bis 12. Januar 2013 mit Bukarester Kindern der Klassen 1 bis 8 blickt sie mit Zuversicht entgegen.

Die Entscheidung, ihren eigenen Weg zu gehen, hat Raluca Nicolae bis heute nicht bereut. „Auch wenn mich viele für verrückt erklärt haben, als ich meinen guten Job dafür hingeschmissen habe“, lacht die Umweltschützerin auf. Eines dürfte jedoch sicher sein: Nur Pioniere wie sie – und derer gibt es hierzulande immer mehr – haben das Potenzial, den Grundstein für  ein neues Rumänien zu legen. Ein grünes, fruchtbares, gesundes, artenreiches Öko-Rumänien, in dem auch wir als Gäste der Natur stets willkommen sind, solange wir uns entsprechend verhalten...