Grenzübergänge

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Mein Freund Rainer aus Köln erzählte mir kürzlich, er sei einmal Anfang der 70er als Oberstufenschüler in der DDR gewesen, auf Klassenfahrt. „Beim Passieren der Grenze in den Osten ist ein DDR-Zöllner in den Bus gestiegen“, so Rainer, „und hat einen meiner Mitschüler höhnisch gefragt: ‘Was verstecken Sie denn unter dieser komischen Frauenmähne?’ Dabei zeigte er verächtlich auf dessen Hippie-Frisur. ‘Ich sage es Ihnen, aber nur dann, wenn Sie mir verraten, was Sie unter ihrer Mütze verstecken!’, so die Antwort des Schülers. Obwohl diese Erwiderung grölendes Gelächter im Bus hervorrief“, erzählte mir Rainer, „wusste der Zöllner leider weder den Witz noch die Schlagfertigkeit des Jungen zu schätzen und erteilte umgehend nicht nur ihm, sondern uns allen eine eigenartige Belehrung. Das heißt, der Bus musste auf die Standspur fahren, und wir durften uns drei geschlagene Stunden lang nicht fortbewegen. ‘Seid ihr denn alle bescheuert?’, rief uns der vor Wut rasende Busfahrer nach dem Ausstieg des Zöllners zu. Und anschließend hielt er uns eine lange Predigt über unsere grenzenlose Dummheit und deren sichtbare Konsequenzen, was wir wiederum ganz prima fanden, denn dadurch verging die lange Wartezeit an der ostdeutschen Grenze etwas schneller.“

Apropos Grenze und lange Wartezeit: Ich lebte in den 70ern in Rumänien, und hatte dadurch sogar noch viel mehr Pech als Rainer, denn ich wollte ja nicht wie er die Grenze vom Westen in den Osten passieren, sondern umgekehrt. Und dafür  musste man damals wesentlich länger als nur drei Stunden warten. Denn man hatte zu dieser Zeit in Rumänien zwei wichtige Bedingungen zu erfüllen, um eine Ausreisegenehmigung in ein westliches Land zu erhalten: Man musste mindestens 80 Jahre alt sein und hatte unbedingt eine handgeschriebene Einverständniserklärung der Eltern mit seinem Reisevorhaben vorzulegen.
Aber nun Spaß beiseite, ich war Anfang der 70er gerade Französisch-Lehrer geworden und wollte auf Grund meiner leidenschaftlichen Frankophilie nach Frankreich fahren, zu Freunden aus Grenoble, die ich eines Sommers in Temeswar kennen gelernt hatte. Ich reichte also einen Ausreiseantrag ein, und ich bin mir ziemlich sicher, die Behörde hat sich darüber scheckig gelacht. Wo will der Junge hin?! Nach Frankreich?! Ha, ha, köstlich! Der hat vielleicht Einfälle!

Doch dieses spontane, herzhafte Lachen soll jetzt keineswegs über die Wahrheit der damaligen Zeit hinwegtäuschen. Es war beileibe nicht so, dass man mich als Ausreisewilligen nicht ernst nahm. Ganz im Gegenteil. Nach lediglich einer Woche ließ man mich bei der zuständigen Polizeistelle antreten, und teilte mir in einem überaus freundlichen Ton mit: „Überhaupt kein Problem, Genosse! Sie wollen nach Frankreich reisen, so dürfen Sie es auch tun. Schon morgen können Sie Ihre Koffer packen, um sich nach Grenoble aufzumachen. Sie müssen uns nur noch kurz nachweisen, dass Sie über ausreichend Devisen verfügen.“

Nun ja, man zieht immer wieder über die damalige Ostblockdiktatur her, aber eins muss man ihr auf jeden Fall lassen: Sie kümmerte sich wirklich um ihre Bürger, und daher konnte sie beileibe nicht zulassen, dass man in einem wildfremden, westlichen Land mit leeren Taschen, wie ein armseliger Clochard antanzte.  Zum Glück lagen in einer meiner Schubladen fünf Dollar, die hatte mir mal ein Tourist für meine Reiseleiterdienste zugesteckt, aber ich erwiderte knapp, ich würde über keinen einzigen Cent verfügen. Denn ich war ja nicht blöd! Wer Devisen besaß, machte sich strafbar und durfte künftig nicht einmal mehr nach Bulgarien reisen. Nun ja, das absurde Theater fand eben nicht nur bei Ionesco statt. Und so musste ich mir mangels Devisen, die ich gar nicht besitzen durfte, die Reise nach Frankreich abschminken.

Nun lebe ich seit langem in Düsseldorf und reise oft zwischen Ost und West hin und her. Denn wenn ich in Düsseldorf bin, finde ich es in Rumänien besser und umgekehrt. Am wohlsten fühle ich mich letztendlich im Flugzeug, im Auto oder im Zug. Durch die frühere Ost-West-Grenze hatte ich zwar Dauerstress, aber die heutige Reisefreiheit macht mir wiederum auch ganz schön zu schaffen.