Inwendige Raumfahrt

Ein Interview mit Dr. Ara V. Nefian, Senior Scientist beim Intelligent Robotics Group der amerikanischen Weltraumbehörde (NASA)

Der aus Rumänien stammende NASA-Experte Ara V. Nefian ist seit mehreren Jahren in führender Position beim Intelligent Robotics Group des NASA Ames Research Center und als Wissenschaftler an der Carnegie Mellon University (Silicon Valley) tätig. Er leitet u. a. das Lunar Mapping and Modeling Project (die Vermessung des Mondes). Vor seiner Promotion am Georgia Institute of Technology (1999) studierte er Ingenieurwissenschaften (Elektronik) am Bukarester Polytechnikum. Zehn seiner Erfindungen wurden bereits in den USA sowie auch international patentiert. Das Gespräch mit Ara V. Nefian führte Vasile V. Poenaru.


Lieber Herr Nefian, es heißt, Sie wollen zum Mars. Stimmt das? Ist das ein Traum? Wird der Traum wahr?

Gerüchte sind fast immer wahr, oder sie sind stets beinahe wahr. Zum Mars gelangen, das ist ein Traum; dabei stehe ich gegenwärtig im Begriff, eine Software-Komponente zu entwickeln, anhand derer Bilder von Curiosity (Mars Science Lab) verwertet werden sollen. Diese Bilder werden automatisch vom Rover auf dem Mars bezogen, und das System erstellt dann ein dreidimensionales Modell des durchquerten Mars-Geländes.

Beam me up, Scotty. Wie sieht der tägliche Arbeitsweg eines NASA-Experten aus? Und wo genau befindet sich Ihr Arbeitsplatz?

Ich arbeite beim NASA Ames Research Center in Moffett Field in Kalifornien, das liegt so an die 40 Meilen südlich von San Francisco. Ich brauche anderthalb Stunden, um zu meinem Arbeitsplatz zu gelangen, die Hälfte der Strecke lege ich mit dem Fahrrad zurück und die andere Hälfte mit der Bahn. Hört sich wohl echt lang an. Irgendwie ist mir aber zumute, als hätte ich bis zu meinem Arbeitsplatz überhaupt keine Strecke zurückzulegen, denn die Fahrt ist sehr angenehm, und – Hand aufs Herz –  im Zug kann ich ja ganz gut arbeiten. Und was den Teil der Strecke anbelangt, den ich per Fahrrad zurücklege: Es gibt viele Touristen, die ein Heidengeld zahlen, um auf den Hügeln von San Francisco Rad zu fahren ...

Möglicherweise eine sonderbare Frage in einem sonderlich anmutenden Kontext. Nichtsdestoweniger: Wer sind Sie? Was ist die Sprache Ihres Herzens, was ist die Sprache Ihres Gemüts? Auf wie viele verschiedene Weisen kann einer im Land der Freien ticken? Wie leicht ist es, in See zu stechen? Und: Sind Sie immer noch mehrfach verankert?

Rumänisch und Englisch sind die Sprachen meines Herzens und meines Gemüts. Ich lebe in den Vereinigten Staaten. Vor geraumer Zeit fasste ich den Entschluss, hier zu leben, und ich lebe immer noch gerne hier. In den Staaten machte ich die Erfahrung, dass durch harte Arbeit, durch Hingabe an den Beruf und durch Kreativität alles erreichbar ist, was man sich vornimmt. Ein sehr wohltuendes Gefühl, ich wünschte mir nur, es wäre auch andernorts im gleichen Maße so. Nach Bukarest fliegen, das ist immer eine Heimkehr.

Sie reisen oft – wenngleich nicht im Weltraum. Europa, die Staaten, dazwischen ein bisschen Machu Picchu oder Ararat, das Dach der Welt. Bewegen Sie sich gerne schnell oder lieber Schritt um Schritt?

Ich bin einer, der die Orte, die er bereist, gerne versteht. Ich denke, die Wahl der Orte, an die ich mich begebe, hat damit zu tun – und mit der nötigen Sicherheit. Wie dem auch sei, am liebsten würde ich so schnell wie immer nur möglich zum Mars fliegen und mich dort so lange wie immer nur möglich aufhalten.

Gesetzt Sie könnten eine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen. Wo würden Sie an sich die ersten Anzeichen von dem erkennen, was nun Ihren Alltag ausmacht, den ersten Impuls, andere Welten in Augenschein zu nehmen, vertrauten Boden und vertraute Himmel zu verlassen, um einen Planeten zu umfassen, all seine Geheimnisse kennenzulernen?

Bei der ersten Mondlandung war ich gerade mal sechs Monate alt. Meine Eltern ließen mich das Ganze spät in der Nacht im Fernsehen mitbekommen. Niemand behält seine Erinnerungen aus einem so frühen Alter, aber es gibt keine bewährte Theorie, die besagen würde, dass dasjenige, was uns in einem so zarten Alter widerfährt, nicht etwa einen Fingerabdruck auf dem hinterlässt, was wir später so tun. Vielleicht hat jene Nacht, auf die ich mich nicht besinne, zu meinem Interesse an der Raumfahrt beigetragen und irgendwie dasjenige mitgestaltet, womit ich mich heute beschäftige.

Die Milchstraße hat einen Heiligenschein,  die NASA hat einen Gral – oder doch jedenfalls ein GRAIL (Gravity Recovery and Interior Laboratory mission), der Mars wimmelt nur so von winzigen grünen Kerlen, wenigstens erzählt man sich das. Sie bewegen sich gewiss in höheren Gefilden als die meisten Ingenieure, ja als die meisten Menschen überhaupt. Sind Intuition, Emotion und Offenbarung da am rechten Platz, wo kein Mensch je seinen Fuß setzte?

Abwegige Orte aufsuchen, das zeitigt – ebenso wie die Arbeit an einem Forschungsprojekt – einen Zauber der Entdeckung, der sich zur Genugtuung der vollbrachten Tat hinzugesellt. Sehr wenige Menschen haben das Privileg und den Mut, unbekannte Regionen zu erkunden, doch abenteuerreiche Reisen bringen einen dem Sinn und dem Wesen einer Entdeckungsreise näher.

Die NASA ist ein Mythos, und NASA-Ingenieure sind Helden, so „Der Spiegel“ vom 25. Juni 2008 („50 Jahre Nasa“). Wo begann Ihr heroischer Werdegang? Haben Sie den Mond ins Visier genommen oder sind Sie sozusagen einfach auf ihm gelandet? Oder: Warum schaut sich einer vom schönen Standort Kalifornien aus die Sterne hoch oben am Himmel an?

NASA-Ingenieure, Wissenschaftler und insbesondere die Astronauten leisten tatsächlich so manches, was im wörtlichen Sinne zu einer anderen Welt gehört, und wenn ich aus der Erfahrung der Arbeitsplätze heraus sprechen darf, die ich kenne, muss ich schon sagen, dass sich die NASA in Sachen Ingenieurwissenschaft und Weltraumerforschung die allerehrgeizigsten Ziele steckt – und diese auch sehr oft erreicht. „The sky is the limit“, nach dieser Vorstellung richten viele Menschen in Kalifornien ihr Leben.

Ein Click auf die NASA-Webseite  erweist, dass Sie nicht nur das Lunar Mapping and Modeling Project leiten, sondern auch weitere Initiativen. Bitte gehen Sie näher auf Ihr gegenwärtiges Aufgabenfeld ein.

In einer Nuss: Ich leite ein planetarisches Vermessungsteam, ein Team, das Bildverarbeitungstechniken und Vermessungsprodukte für planetare Erforschungen entwickelt. Die im Rahmen laufender Mars- und Mondeinsätze erfassten Informationen (meist Bilder) werden automatisch verarbeitet und dienen dann als Grundlage zur Erstellung von zweidimensionalen und dreidimensionalen Karten, die an die Wissenschaftler und Missionsplaner im Hinblick auf künftige bemannte oder vollautomatisierte Einsätze weitergeleitet werden.

Kürzlich haben wir aufgrund der Aufnahmen der Apollo-Einsätze (die über nicht weniger als 18 Prozent der gesamten Mondoberfläche Aufschluss geben) unter Berücksichtigung des Geländes und des Beleuchtungsfaktors (albedo) eine Mondkarte mit einer bislang noch nie gewährleisteten Auflösung erstellt. Bald soll diese Karte der Öffentlichkeit auf Google Earth/Moon zur Verfügung stehen. Wie gesagt bin ich auch im Umfeld des Mars Science Lab (Curiosity) tätig, indem ich Bildverarbeitungstechniken zur Ortung, Nachvollziehung und Vermessung des Bahnverlaufs des Rovers auf der Marsoberfläche entwickle.

Das moralische Gesetz in uns: Seit Kant wird es mit dem bestirnten Himmel über uns in Verbindung gebracht. In seinem Gedicht „Luceafărul“ („Der Abendstern“) verortet der rumänische Nationaldichter Mihai Eminescu seinen Helden zwischen zwei sternbedeckten Himmeln; einer ist oben, der andere unten. Auf und ab, inwendig, auswendig, geradeaus und rundherum: Das weitere Bezugssystem Ihrer Arbeit dürfte für Erdmenschen ziemlich verwirrend sein. Vermessen Sie mehr, als das Auge wahrnimmt? Kommt es Ihnen manchmal vor, dass Sie etwas tun, was nicht ganz wirklich sei?

Wir sind allesamt in den Einzelheiten unserer Arbeit befangen, und in den Bestrebungen, Fehler zu beheben und bessere, schnellere und zuverlässigere Produkte zu erzeugen. Gelegentlich mache ich mir dafür Zeit, mal abzuschalten und mich dem Gedanken hinzugeben, wie glücklich ich bin, an Projekten mitzuwirken, die ungemein weit entfernte Welten angehen. Doch, die Frage habe ich mir manchmal schon gestellt: Ist das die Wirklichkeit? Sind diese Mondbilder dieselben, die im Rahmen der ersten Mondlandung erfasst wurden, damals, als mich meine Eltern in der Nacht wach bleiben ließen?

Was ist das Rezept Ihres beruflichen Alltags? Ein Teil Routine, ein Teil Durchbruch und ein Teil Schweigen?

Die Routine spielt nur eine geringe Rolle, und das Schweigen überhaupt keine. Die meiste Zeit bemühe ich mich, die besten Lösungen für Probleme zu finden, und der Durchbruch tritt selten ein, regt uns dann jedoch immer an, bis zum jeweils nächsten Durchbruch weiterzumachen.

Wir leben innerhalb der Sterne, und die Sterne leben in uns. So würde es Wilhelm von Humboldt sagen, wäre er Teil der Mission to Mars. Aber bei Humboldt drehte sich ja alles um die Sprache – und um die Vermessung des Kulturellen. Leben Sie an der Grenze der Dinge oder tief im Innern?

Man kann nicht zur Grenze des Erfassbaren vordringen, ohne tief ins Innere zu blicken und aus dem, was wir bereits wissen, einen Sinn zusammenzureimen.

„Diese Geschichte, die wir ‘Buch des Flüsterns’ nennen, ist nicht meine Geschichte. Sie begann lange vor der Zeit meiner Kindheit, als man im Flüsterton sprach.“ (Varujan Vosganian, „Buch des Flüsterns“, aus dem Rumänischen von Ernest Wichner) Spüren Sie die Anziehungskraft, die aus solchem Flüstern hervorgeht? Oder ist es ein Drang?

Ja, da ist schon was dran. Mein Großvater war ein Überlebender des an den Armeniern verübten Völkermords. Sein Vater, den ich nie kennenlernte, hat nicht überlebt. Bisweilen wird mir bewusst, dass ich nur zwei Generationen von meinem Urgroßvater entfernt bin, einem Menschen, dem ein derartiges Unrecht zugefügt wurde, jemandem, der nicht im geringsten solche Chancen hatte, wie sie mir zuteil wurden.

Und nun ein Zitat aus Hemingways „Indian Camp“: „In the early morning on the lake sitting in the stern of the boat with his father rowing, he felt quite sure that he would never die.“ Spricht Sie das an? Gibt es dort drüben, wo die Wahrheit ist, Dinge, von denen man mit totaler Gewissheit sprechen kann?

Die Wahrheit ist dasjenige, was wir vermittels unseres Körpers empfinden, oder vermittels der Werkzeuge, die wir geschafft haben. Ich glaube auch, dass es Dinge gibt, die ebenso wahr sind, allein wir können sie – noch – nicht empfinden.

Nehmen wir mal an, Sie seien im Weltall. Was sehen Sie, wenn Ihnen auf der Milchstraße vor dem dritten Planeten eines mittelgroßen Sterns eine glückliche Wendung gelingt? Die Karpaten? Die Rockies? Anders gesagt, wie eigenartig ist es, good old San Francisco Ihr Zuhause zu nennen? Und wie weit entfernt von zu Hause ist das Zuhause?

Je nach der Zeit und der Positionierung kann einer den Ararat, die Karpaten oder die Rockies erblicken, ja vielleicht sogar San Francisco oder Bukarest. Dabei sehen wir von all diesen Blickpunkten aus dasselbe Bild der Milchstraße, soweit wir unseren Blick nur hinreichend bemühen.

(Aus dem Englischen von Vasile V. Poenaru)