„Jeder Mensch ist rein, herrlich und wertvoll“

O-Ton Florin Müller: Botschaften aus der Erlebniswelt eines Autisten

Florin Müller | Foto: privat

Acrylbild „Licht erstrahlt das Dunkel“, Florin Müller 2019

Am 19. Februar bewegte die Geschichte von Florin Müller, „Befreiung aus dem wörterlosen Körpergefängnis“ viele Leserherzen der ADZ: Mit dreieinhalb Jahren aus einem rumänischen Waisenhaus nach Deutschland adoptiert, galt der autistische Junge lange als schwer geistig behindert, bis Therapeutin Hanne Kloth 2011 zufällig entdeckte, dass er lesen und schreiben konnte. Da war er bereits 17 Jahre alt. Als sie ihn zum ersten Mal vor den Laptop setzte und mit einer speziellen Technik stützte, um seine unkontrollierten Muskelreaktionen aufzufangen, die ihn bisher an koordinierten Bewegungen hinderten, da purzelten die Worte nur so in die Tasten: „Ich bin nicht dumm! Ich will zeigen, dass ich etwas kann. Ich möchte einen richtigen Schulabschluss machen.“ 
Es war der erste Satz, den der mittlerweile 26-Jährige der Außenwelt mitteilen konnte. Heute ist er mehrfach prämierter Autor von Kurzgeschichten und Gedichten, schreibt Bücher und tritt mit seiner Therapeutin zusammen auf Konferenzen auf. Sein sehnlichster Wunsch, berühmt zu werden, ist auf dem besten Weg, in Erfüllung zu gehen. 
Sprechen kann Florin nicht. Und weil er auch nur im Beisein seiner Therapeutin schreiben kann und diese coronabedingt Distanz halten musste, war damals keine direkte Kommunikation mit ihm möglich, seine Geschichte erzählte Hanne Kloth. Doch seit März kann sie ihn wieder besuchen, so dass mit ihrer Hilfe nun auch ein direktes Interview zustande kam. Die Fragen stellte Nina May.

 Florin, wie fühlst du dich, weil du wegen deiner fehlenden Sprachfähigkeit nur denken kannst?
Ich verliere oft Geduld und jeden Mut, weil ihr nicht deuten und nicht erahnen könnt, was ich „sagen“ möchte.

Wie fühlst du dich, weil du von vielen Menschen als geistig behindert abgestempelt wirst?
Furchtbar und hilflos.

Was sind deine häufigsten Gedanken, die du ja nicht problemlos kommunizieren kannst? Reflektierst du manchmal über den Sinn des Lebens? Erlebst du auch geistige Höhenflüge dadurch, dass dein Bewusstsein geschärft ist? Oder drehen sich deine Gedanken eher im Kreis, um fesselnde dunkle Schatten aus der Vergangenheit?
Ich kenne nur dunkle Gedanken über Grab und Verlust, und ich fürchte mich dann, jetziges Glück auch zu verlieren.

Wie empfindest du das Fehlen der verbalen Kommunikation und was hast du empfunden, als du zum ersten Mal schreiben konntest?
Über all die Jahre meiner Sprachlosigkeit, meiner Mitteilungslosigkeit, musste ich all das Schreckliche, all das nach Mitteilung Schreiende in mir bewahren. Es war kaum zu ertragen und hatte oft lautes Herausschreien zur Folge. Das Schreiben hilft mir, dieses Schreien unterdrücken zu können, denn es jagt den furchtbaren Gesellen weg, den Gesellen, der mich kraftlosen Menschen kommandiert. Das Schreiben unterdrückt Verzweiflung und die Konzentration auf die Buchstaben erleichtert es mir, mich zu orten. Als ich zum ersten Mal auf dem Computer schreiben konnte, begann für mich ein neues Leben und es bedeutete mir, endlich unter euch sein zu dürfen.

Wie hast du das Lesen gelernt?
Durch Unterricht zuhause, und zwar durch Beobachten meiner Eltern beim Ablesen von Wörtern.

Wie kam es zu deinem einmaligen Schreibstil, deiner besonderen Ausdrucksweise?
Den bekam ich nicht durch Lernen oder Lesen, sondern er war ja so im Geist festgelegt.

Wann kam der Wunsch, Schriftsteller zu werden?
Direkt als ich es schreiben konnte.

Wie kam es zu dem Wunsch, welche Motivation steckte dahinter?
Um die Gefahr, von anderen nicht gehört zu werden, zu bewältigen und vielleicht sogar zu vermindern.

Was sollen die Leser erfahren oder lernen?
Jeder Mensch sollte Menschen begegnen, die ihn genau sehen und achten, denn jeder Mensch ist rein, herrlich und wertvoll. Hütet euch vor einem Einreihen von Menschen in Gut und Böse, ohne ihre Lebensgeschichte zu kennen.

Kann es sein, dass eine Behinderung nicht nur Fluch ist, sondern auch eine Chance, weil sie einem zwar viele Möglichkeiten verschließt, doch damit auch in eine andere Richtung drängt, auf eine Aufgabe, eine Lebensaufgabe, hinführt?
Gegen diese Vermutung sperrt sich mein  Inneres, weil der schreckliche Autismus zu bestimmend ist. Taube Menschen zum Beispiel sehen das vielleicht anders. Ich aber bin allem ausgeliefert, und viele Menschen hegen Zweifel an mir. Das stimmt mich traurig.

Wie sollte man Wesen begegnen, die einem fremdartig erscheinen?  Hast du eine Idee?
Mein Wunsch, meine Hoffnung, mein Traum ist, dass Menschen erst genau schauen, erst genau prüfen, was das Fremde fremd erscheinen lässt, bevor sie es vorschnell als schlecht abstempeln, nur weil sie es nicht gewohnt sind. Jeder sollte sich bewusst sein, dass fremdartig und ungewohnt nicht automatisch mit schlecht oder böse gleichzusetzen ist, sondern einfach nur mit anders.

Welchen Vorteil hat für dich das Schreiben gegenüber der Kommunikation mit Bildkarten und Gebärden, der du dich früher bedienen musstest?
Empfindungen und Wünsche konnte ich vor dem Schreiben nur mit Gebärden, Bildkarten oder knappen, euch oft nicht verständlichen Lautbildungen, versuchen nahe zu bringen, leider oft erfolglos. Durch das Schreiben kann ich endlich zeigen, dass ich nicht dumm bin, dass ich in all den Jahren der Hoffnungslosigkeit versucht hatte, so viel wie möglich zu lernen, zu lernen, unbemerkt von euch, die ihr mich für dumm hieltet.

Machst du auch gerne Blödsinn, lustigen Blödsinn? Wie geht das zum Beispiel? 
Ja. Durch Blödsinn eben, ich lache viel.

Wie sieht dein Alltag aus?
Mein Alltag muss fest geregelt sein, einen festen Ablauf haben, damit ich ihn ertragen kann. 
Montag ist der erste Arbeitstag der neuen Woche, ich fahre dann nach Heusweiler arbeiten und komme um 16.00 Uhr wieder nach Hause. In Heusweiler arbeite ich jeden Tag.
Dienstag werden bei Ebay Rasselsteine bestellt.
Mittwoch geht es in den Aldi, meinen Kakao kaufen.
Donnerstag kommt Hanne in die Einrichtung, um mit mir an meinen literarischen Projekten zu arbeiten. Abends werden dann die Fingernägel geschnitten, egal ob nötig oder nicht.
Freitag geht es zum Einkaufen in das Rofu Kinderland.
Samstag steht der Einkauf im Real Markt an.
Sonntag ist Flohmarktbesuch.

Was sind deine Träume für die Zukunft?
Ich träume davon, euer kunstvieles Leben zu erreichen. Mit kunstviel meine ich sagenhaft schön. Daher zähle ich die Tage eines unfreiwilligen Lebens im Autismus. Ich weiß, dass dieser Wunsch irreal ist, nicht erfüllbar, aber es ist ja auch nur ein Wunschtraum.

Hältst Du manchmal Zwiegespräche mit Gott?
Ja.

Antwortet er dir?
Nein.


Träume

richtungsweisende Wünsche 
richtungsweisend weil sie es schaffen 
sich selbst in wundervollen Ereignissen treiben zu lassen 
treiben zu lassen ohne Gefühl von Ketten und Grenzen 
und dennoch richtungsweisend da Möglichkeiten weisend 
für eine schönere Realität 

Florin Müller, 2013


Normal nur anders

Kurzgeschichte zum Thema „fremdartig“ von Florin Müller, geschrieben 2020

Es ist ein heißer Augustsonntag. Der Wetterdienst hat Temperaturen bis zu 40 Grad vorausgesagt, so dass die Menschen vor der Hitze der Stadt flüchten und zu dem nahe gelegenen Badesee strömen.

Auch er ist mit seinen Eltern dorthin gefahren. In Verlassenheit geboren, hatten sie ihn, damals in einem fernen Land, gefunden und mitgenommen. Gütige Menschen. Er weiss es. 

Trotz der Hitze steht er fröstelnd nahe einem Baum. Seine eiskalten Hände führen immer wieder und wieder den leeren Becher an seine Lippen. Über das Spüren eines behutsamen Gefühls der Berührung erfährt er Beglückung, verstärkt durch ein beständiges Wippen seines schmächtigen Körpers. Ab und zu stößt er Laute aus. Markerschütternde Laute. Menschlich und doch menschenfremd.

Je höher die Sonne am Himmel steigt, je gnadenloser sie hinunterbrennt, umso mehr Badegäste finden sich ein. Es ist ein Meer an Menschen, dicht beieinander liegend, nur um ihn ist noch Platz.  
Kälte umfängt ihn, spinnt ihn ein in einen Kokon. Es ist ihm vertraut. Er ist daran gewöhnt. Nur nicht verzagen. Weh tut es, aber er kann es nicht ändern. Er weiss es.

In gewissem Abstand lassen sich ein paar mutige Gäste nieder. Nur nicht zu nah, damit das unangenehme Gefühl des Unbehagens, das in ihnen hochkriecht, nicht zu stark wird. Mit gesenktem Blick, aber dennoch ihn im Auge behaltend, flüstern sie miteinander.

Er erahnt ihre Worte, denn er kennt sie. Ihre Körperhaltung, ihre Gestik, ihre Mimik, alles Zeichen für ihn, Zeichen, die ihm zeigen, wie stark Misstrauen und sogar Angst vor ihm Besitz ergreifen von anderen: Das kann doch kein friedlicher Mensch sein, was ist es? Was hat es hier unter uns zu suchen? Hier gehört es nicht hin. Es ist eine Gefahr für uns. Kinder kommt her, geht nicht dahin. 

Dunkle Wolken ziehen am Himmel auf. Da setzt auch schon der Regen ein. Ein Gewitter rollt an. Schnell ordnen die Badegäste ihre Taschen und laufen zurück zu ihren Autos. Die Wiese ist leer. Nur der Regen prasselt auf das Grün und lässt das Gras duften. Nun ist er alleine.
Er steht immer noch am Baum. Ein Lächeln breitet sich über sein hageres Gesicht. Der Regen auf seiner Haut haucht ihm neues Leben ein. Alleine, beobachtet nur von den hortenden Blicken seiner Eltern, verschwindet langsam die Kälte aus seinem Körper. Seine Hände legen den Becher ab, das Wippen wird zu einem gezielten Gang und jauchzend läuft er zum See. Er springt in das Wasser, das ihn wohlig umschließt. Er taucht ein in eine andere Welt, eine Welt, die ihn umarmt, die ihn einbezieht in das Leben, in das richtige Leben.