Mütter mit leeren Armen

Ein Projekt thematisiert offen den Verlust eines ungeborenen oder neugeborenen Kindes

„Mame cu brațe goale“ ist ein kollektives Projekt, das Geschichten von Frauen in Rumänien sammelt, die bereit sind, über den Verlust ihres Kindes während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt zu sprechen. Wer die eigene Geschichte und die des Babys erzählen möchte, ist herzlich dazu eingeladen: Texte können an die E-Mail-Adresse brate.goale@gmail.com gesendet werden. Details zu den Veranstaltungen und Unterstützungstreffen sind von der Facebookseite der Initiative abrufbar: facebook.com/mamecubratelegoale. Foto: Camelia Popescu

Die Ausstellung mit den Bildern von Camelia Popescu und den Geschichten der 20 Frauen soll als Wanderausstellung in ganz Rumänien Foto: Lorand Szazsi

„Alles bis zu einem Montag. Montag, dem 4. Oktober 2021. Damals habe ich verstanden, wie es ist, wenn man sich auf dem Höhepunkt des Glücks wünscht, nicht mehr zu existieren. Ich habe ihre Bewegungen am Morgen nicht gespürt. Ich geriet in Panik. Ich habe alles getan, was ich wusste, um sie dazu zu bringen, mich anzustupsen. Ich landete im Krankenhaus. Ich konnte vor Aufregung kaum noch stehen. Ich wollte glauben, dass man mir sagen würde, dass alles in Ordnung sei, aber ich hatte ein unangenehmes, seltsames Gefühl, das meinen ganzen Körper erschütterte. Was ich hörte, war: ‚Das Herz des Babys hat aufgehört zu schlagen, es tut mir leid‘. Schwarz. Das ist alles, was ich gesehen habe. Alles, was ich sagen konnte, war: ‚Das glaube ich nicht! Niemals!‘ Weitere Untersuchungen bestätigten: Amelias Herz hatte aufgehört zu schlagen. Plötzlich. Plötzlich hatte ich nichts mehr. Meine Welt war zusammengebrochen.“ (-A.)

„Wir fanden heraus, dass etwas mit der Morphologie des ersten Trimesters nicht stimmte – das Baby hatte eine Anomalie, die mit dem Leben unvereinbar war. Offensichtlich habe ich ihnen nicht geglaubt. Ich habe immer gehofft, dass sie es im Ultraschall nicht richtig gesehen haben, aber nach mehreren Untersuchungen bei unterschiedlichen Ärzten wurde mir nach 15 Wochen ein therapeutischer Schwangerschaftsabbruch empfohlen. Ich habe beschlossen, es zu tun. Ich verstand, dass es keinen Sinn hat, ein Wesen auf die Welt zu bringen, das dann bald darauf stirbt. Ich musste die vorzeitigen Wehen ALLEIN mit ein paar Pillen einleiten. Ich fühlte mich, als hätte ich mein Baby mit meinen eigenen Händen getötet. Es war eine furchtbare Erfahrung, und ich wünsche niemandem, zu erleben, wie es ist, wenn deine Seele ab diesem Moment anfängt zu sterben. Viele Mütter erzählen von Schwangerschaftsabbrüchen, aber ich habe noch nie jemanden sagen hören, was passiert, wenn man seine eigene Geburt einleiten muss, wenn man jemanden tötet, weil man keine andere Wahl hat. ICH hatte keine andere Wahl.“ (- C.)

„Ich war in der 21. Woche schwanger und 28 Jahre alt, als ich die Nachricht erhielt, dass der kleine Schatz in meinem Bauch, falls er es bis zur Geburt schafft, gesundheitliche Probleme haben würde. Du willst nicht glauben, dass es wahr ist! Du willst nicht glauben, dass es DIR passiert. Alles, was du um dich herum siehst, sind glückliche Eltern, die ihre Babys im Arm halten. Ich wusste, dass die Entscheidung, die Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt abzubrechen oder ihr Leben in die Hände Gottes zu legen, unerträgliche Folgen haben wird und zu Leiden führen würde. Ich wollte eine dritte Möglichkeit, um die Zeit vor der schrecklichen Nachricht zurückzudrehen. Etwas, das keine schweren Spuren hinterlässt, ein Wunder, oder die Nachricht, dass es sich um eine Fehldiagnose handelt. Ich beschloss, sie so lange wie möglich zu behalten, sie so lange wie möglich zu haben, um ihr zu zeigen, wie sehr ich sie liebe. Ich beschloss, mich nicht mit Schuldgefühlen zu belasten, weil es meine Entscheidung war, ihre Fortschritte zu stoppen. Ich wollte auch nicht mit dem Bedauern leben, dass es vielleicht doch in Ordnung gewesen wäre, aber ich habe ihr nicht die Chance dazu gegeben. Ich hatte also 38 Wochen Zeit, mich über sie zu freuen. Ja, sie waren sehr gefühlsbetont. Das ist alles, was mir von ihr geblieben ist. Dann hörte ihr kleines Herz nur wenige Tage vor dem geplanten Kaiserschnitt auf zu schlagen!“ (- D.)


Das sind nur drei der insgesamt 20 anonymen, berührenden Erzählungen, die vergangene Woche 20 Fotografien im Temeswarer Kulturzentrum Faber begleiteten. „Mame cu brațe goale“ (Mütter mit leeren Armen)  hieß die Ausstellung, Teil einer Veranstaltungsreihe, die dieses sensible und oft zu wenig diskutierte Thema in den Vordergrund rücken soll.

Die Ausstellung markierte gleichzeitig die Woche der Sternenkinder (Baby Loss Awareness Week), zwischen dem 9. und 15. Oktober, wobei der Welttag der Sternenkinder jährlich am 15. Oktober begangen wird. An diesem Tag wird allen Kindern gedacht, die während der Schwangerschaft, während der Geburt oder kurz danach gestorben sind.

Tabusierte Seiten von Mutterschaft sichtbar machen

In Temeswar/Timișoara wurde diese Eventreihe vom Verein „Mame cu brațe goale“ organisiert und beruht auf einer Initiative der Temeswarer Künstlerin Camelia Popescu Rangu. Als Mutter eines Sternenkindes will die Temeswarerin die weniger sichtbare Seite der Mutterschaft zum Ausdruck bringen. Ihr Projekt thematisiert im öffentlichen Raum die häufigen Phänomene Fehl- bzw. Totgeburt und den Verlust von Neugeborenen, und geht von der dringenden Notwendigkeit aus, die Tabuisierung des Themas zu überwinden sowie der Notwendigkeit, dass die mit dem Verlust einer Schwangerschaft verbundene Trauer von der Gemeinschaft respektiert und unterstützt wird.

Die Initiative begann im September 2021 als Kunst-, Bildungs- und Sozialprojekt. In der Zwischenzeit hat Camelia Popescu Rangu über 100 Geschichten von Müttern aus dem ganzen Land und darüber hinaus zugesandt bekommen, Unterstützungsgruppentreffen für Mütter bzw. Eltern und Diskussionen mit Gesundheitsexperten über Kommunikation und emotionale Unterstützung im Zusammenhang mit diesem schmerzhaften Ereignis organisiert.

Tag der Sternenkinder ist der 15. Oktober

Die Fotoausstellung „Mütter mit leeren Armen“ in Temeswar umfasst nun 20 Fotografien, die schwarz gekleidete Frauen zeigen, die anonym bleiben. „Die Frauen halten Blumen in ihren Armen, als Symbol der Vergänglichkeit, des Verlusts, der Ewigkeit.

Jede der 20 Fotografien wird von Texten begleitet, die einer Woche der Schwangerschaft, in der die betreffenden Mütter ihr Kind verloren haben, entsprechen“, erklärt die bildende Künstlerin Camelia Popescu. Der Ausstellungsraum bei Faber wurde auch zur Bühne für Lesungen und Interpretation der Lebensgeschichten der Mütter mit leeren Armen, die Schauspielerin Ana-Maria Ursu trug dazu bei.

Doch die Veranstaltungsreihe  beinhaltete zwischen dem 10. und 13. Oktober auch offene Diskussionen zum Thema sowie zwei Workshops – ein Bewegungs-Workshop und einen über tiefes Zuhören und gewaltfreie Kommunikation.

Die Ausstellung in Temeswar soll aber zu einer Wanderausstellung durch Rumänien werden. „Im März, im sogenannten Monat der Frau, werden wir sie nach Kronstadt/Brașov bringen“, setzt Camelia Popescu fort.

Trauerprozess muss respektiert werden

Im Juli 2021, im fünften Schwangerschaftsmonat, verlor Camelia Popescu Rangu ihre Tochter. Auf Dalias Tod folgte eine Zeit, in der die Mutter, die nun mit leeren Händen dastand, versuchte, dieses Trauma zu verarbeiten, dessen sich die Menschen in ihrem Umfeld meist gar nicht bewusst waren. „Wenn du einen Arm verlierst, sehen dich die Leute, wenn du sagst, dass du dein Baby verloren hast, das von Medizinern als Fötus oder Leibesfrucht bezeichnet wird, frisst dich diese unsichtbare Trauer von innen auf. Wir wissen, wie wir um die Vergangenheit trauern können, aber wir wissen nicht, wie wir um die Zukunft trauern können. Es ist eine andere Art von Trauerprozess – dies spiegelt sich in der Art und Weise wider, wie es am Arbeitsplatz, vom medizinischen Personal, in der Therapie oder beim Beichtvater wahrgenommen wird. Für Ärzte ist ein Abort eine Konstante in ihrem Berufsleben, aber für eine Frau ist eine Fehlgeburt entkräftend“, sagt Camelia.

Geschichten von Verlust

Von Juli bis September 2021 arbeitete Camelia Popescu mit sich selbst, um herauszufinden, was sie mit der Energie, der Liebe und der Frustration, die sie nach dem Verlust ihrer Träume und Projektionen von ihrem Leben als Mutter und ihrer Beziehung zu ihrem totgeborenen Kind zurückgelassen hatte, anfangen konnte. So entschied sie sich, ein kollektives Projekt durchzuführen, in dem sie so viele Geschichten wie möglich von Frauen in Rumänien sammelt, die bereit sind, über den Verlust ihres Kindes während der Schwangerschaft oder nach der Geburt zu sprechen.

Auch die Mutter eines Sternenkindes ist eine Mutter

„Eine Mutter wird Mutter, unabhängig davon, ob ihr Baby in ihren Armen schläft oder die neun Monate der Schwangerschaft nicht überlebt. Eine von vier Frauen verliert eine Schwangerschaft, aber über dieses Thema wird nicht gesprochen, es wird vermieden. Diese Zahlen bleiben eine Statistik, wenn sie nicht durch Geschichten aus dem wirklichen Leben untermauert werden“, sagt Camelia Popescu, die zusammen mit Andreea Molocea „Mame cu bra]e goale“ entstehen ließ.

Dass über hundert Erzählungen während des letzten Jahres bei ihr eingetroffen sind, war für die beiden Frauen erstaunlich. „Alle Mütter mit leeren Armen haben das Bedürfnis, gesehen und gehört zu werden, nicht verurteilt zu werden, sich sicher und mit den Menschen um sie herum verbunden zu fühlen. Liebe Mutter, du bist nicht allein in diesem Überlebenskampf. Wir sind hier, um uns gegenseitig zu unterstützen“, so die Nachricht von Camelia Popescu.