„Ohne die GenZ hätte ich nicht gewonnen“

Interview mit dem parteilosen Vizepräsidenten des EU-Parlaments Nicu Ștefănuță

Als unabhängiger Kandidat Wahlkampagne zu machen, ist sicherlich nicht einfach, insbesondere wenn man nicht aus einer wohlhabenden Familie stammt. Nicu Ștefănuță hat es bei den letzten EU-Wahlen dennoch geschafft, fast 300.000 Rumänen zu überzeugen, für ihn zu stimmen. Eigentlich aber hat er mit rund 1000 jungen Leuten der Generation Z begonnen, die er gewinnen konnte, als Freiwillige für und mit ihm zu arbeiten – sprich, für die Ideale und Ideen, die er vertritt,  und für die Zukunfswünsche, die er verspricht. „Unabhängig, aber nicht alleine“, so lautete das Motto seiner Kampagne, in der er versprach, für ein besseres Morgen zu kämpfen, für weniger Umweltverschmutzung und gesunderes Essen, für erneuerbare Energien, für leichteren Zugang zur Ausbildung über Stipendien oder Gratis-Transport, für kostenlose psychologische Betreuung, Gleichberechtigung von sexuellen Minderheiten, Frauenrechte oder Wohnungen für junge Leute – Themen, die für die jüngere Generation, die in einigen Jahren das Land leiten werden, an erster Stelle stehen. Über diesen Weg spricht er mit ADZ-Redakteur Șerban Căpățână.

Herr Stefănuță, herzlichen Glückwunsch für Ihre Wahl ins EU-Parlament. All Ihre monatelangen Bemühungen haben sich sicherlich gelohnt.


Ich bin sehr zufrieden mit diesem Resultat. Die knapp 300.000 Stimmen haben mich ins EU-Parlament gebracht, wo ich jetzt mehr Macht habe, um gewisse Dinge zu ändern. Jeder, der direkte Stimmen hat, hat auch ein Wort zu sagen. Das ist keine Kleinigkeit.

Wie war es für Sie, die Kampagne als unabhängiger Kandidat, also mit geringen Ressourcen, durchzuführen?

Es war eine sehr ernsthafte und hartnäckige Aktivität, die wir über ein Jahr lang geleistet haben. Wir haben sehr frühzeitig mit der Kampagne begonnen. Ich habe meinen Plan in Hanau angekündigt, auf einem Treffen der rumänischen Diaspora, im Jahr 2022. Und danach sind wir dem Plan einfach schrittweise beharrlich gefolgt: wir haben die Infrastruktur vorbereitet, die Leute vor Ort ausgebildet, Koordinatoren auf allen Ebenen festgelegt und geschult. Erstens habe ich die Kampagne um meine Freiwilligen machen müssen und das war nicht wenig Arbeit. Letzten Endes hatten wir während der Kampagne ein Team von fast 1000 Leuten. Das ist nicht wenig. Es ist fast wie eine Partei. Und gemeinsam haben wir alles vorbereitet, was wir vorbereiten konnten.

Unser Budget war eigentlich ziemlich gering. Zusammen mit meiner Familie habe ich knapp 80 Prozent davon gesponsert.

Danach haben wir Materialien vorbereitet, wir haben Events organisiert, haben überaus gute Beziehungen zu Influencern hergestellt, die uns letzten Endes auch geholfen haben.

Ihre Kampagne haben Sie wortwörtlich „auf der Straße“ geführt. Sie waren eigentlich der einzige Kandidat mit dieser Ausrichtung.

Ich hatte kein Geld für TV. Falls Sie es nicht wissen: Eine Minute TV-Auftritt während der Kampagne kostete 3000 Euro, Geld das wir nicht hatten. Unsere einzige Lösung war eigentlich, auf die Straße zu gehen. Auch weiterhin glaube ich, dass dieser Ansatz in der Politik der beste ist. Umsonst nutzen wir TikTok oder TV, wenn wir nicht direkt mit den Leuten sprechen. Den Wählern gefällt es immer noch, sich in Person mit den Kandidaten zu treffen.

Inklusive der GenZ, der Jugend, die anscheinend am Touchscreen festklebt?

Das ist ein schwarzes Stereotyp, wenn mir erlaubt ist, das zu sagen. Auch die Jugend wünscht sich zwischenmenschliche Beziehungen, auch die Jugend möchte von jemanden angehört werden. Ohne die GenZ hätte ich nicht gewonnen. Sie stellt die vorwiegende Mehrheit meiner Freiwilligen. Die GenZ, von der jedermann meint, sie sei am Handy festgeeist, war überhaupt nicht dem Handy verfallen: sie waren auf der Straße mit mir. Ich habe mit den Jugendlichen gesprochen. Auch wenn einige introvertiert waren oder gerade eine Depression durchmachten, viele haben mir ihre Nöte gesagt. Für sie war es sehr wichtig, einen höheren Zweck zu finden, eine Politik zu sehen, die mit ihrem Gemüt im Einklang steht. Das hat für sie sehr viel gezählt.

Bitte glauben Sie mir: die GenZ ist sehr aufmerksam und hört genau zu, was für eine Message man aussendet. Ich habe mir jahrelang die Probleme der Jugend angehört und ich wusste genau, was sie bedrängt. Und ich konnte meine Message nach ihren Bedürfnissen kalibrieren. Ich habe keine allgemeinen, inhaltlosen Slogans verbreitet, sondern habe mich mit überaus ehrlichen und sehr, sehr relevanten und aussagekräftigen Messages vorgestellt.

Erinnern Sie sich an lustige oder vielleicht weniger lustige Situationen während der Kampagne?

Natürlich. Es waren so viele (schmunzelt). Lassen Sie mich kurz erzählen: Einer meiner Freiwilligen, Teil der Gay-Community, versuchte, eine Dame zu überzeugen, für uns zu unterschreiben. Nur als Zwischenbemerkung: Ich habe sehr viele Hater, weil ich der Gay-Community beistehe, zumal immer noch viele Leute nicht sehr offen gegenüber diesem Thema sind. Viele glauben, dass man eine bestimmte Community nur unterstützt, wenn man selbst Teil dieser Community ist. Das ist aber komplett falsch, denn auch Männer können Frauenrechte unterstützen, nur als Beispiel. Diese Dame also sagte meinem Freiwilligen: „Ich unterschreibe für dich, weil du gutaussehend bist, aber nicht für deinen Boss, der gay ist“. Dabei mussten wir alle schmunzeln, denn die Antwort meines Volontärs war: „Wissen Sie, liebe Dame, eigentlich bin ich derjenige, der gay ist und mein Boss ist der Gutaussehende“. Natürlich musste auch die Dame lächeln! Sie hat dann auch unterschrieben. Es gab viele derartige lustige Situationen.

Es gab aber auch weniger lustige Zwischenfälle. Mehrmals wurden wir von Hatern fast verprügelt. Es gab da einen Mann mit russischem Namen und Akzent, der mich längere Zeit mit irgendwelchen böswilligen Gedanken aufgesucht hat. Es gab des öfteren die Situation, dass die Lokalpolizei uns nicht erlaubt hat, unsere Tätigkeit durchzuführen. Sehr oft haben uns auch Wachmänner in Einkaufszentren oder auf Universitätsgeländen weggescheucht. Einmal wäre ich zusammen mit einigen Freiwilligen von den Gendarmen fast verprügelt worden, als wir uns ungeplant für eine Pro-Palästina-Demo eingesetzt haben. Und über die fünfzehn Zelte, die wir gekauft haben und die wir in der Früh mit Messern zerschnitten aufgefunden haben, möchte ich überhaupt nicht reden. Das waren alle Zelte, die wir uns leisten konnten… (seufzt, traurig und empört)

Haben Sie Ihren Sieg bei den Wahlen erwartet? Haben Sie erwartet, einer der Vizepräsidenten desEU-Parlaments zu werden?

Ehrlich gesagt, ja. Wie ich bereits erwähnt habe: eine direkte, uninominale Abstimmung seitens fast 300.000 Personen ist überaus wichtig und überaus kräftig. Deswegen sind auch Bürgermeister sehr geschätzt: auch sie werden direkt und einstimmig von den Bürgern gewählt.

Für viele ist unsere Kampagne in Rumänien eine große Überraschung gewesen.

Ich habe aber für meinen Sitz sehr stark gekämpft und habe die Nominierung mit 27 gegen 25 Stimmen innerhalb der Grünen-Fraktion gewonnen. Überraschend war tatsächlich meine Nominierung im Plenum bereits in der ersten Runde. Das hat mich aber gefreut.

Nur damit Sie es wissen: Ganz Europa hat von unserer Wahlkampagne in Rumänien gehört.

Genau. Ich war in der Schweiz, in Österreich, in Italien und die Rumänen, mit denen ich dort gesprochen haben, kannten Ihre Kampagne.

Es ist normal. Wir haben unsere Kampagne tatsächlich auf der Straße geführt. Ich weiß nicht, warum so viele Leute glauben, dass unsere Kampagne per Instagram oder TikTok lief. Wir waren hauptsächlich auf der Straße. Wir haben auch sehr viel Aufklärungsarbeit geleistet, eine Tätigkeit, für die der Staat eigentlich zuständig wäre. Die Wähler wussten nicht, was diese Wahl überhaupt bedeutet, warum sie mit dem Kugelschreiber irgendwo unterschreiben sollen, wie gewählt werden muss, wer ein Wahlrecht hat und wo. Wir mussten das Publikum informieren. Wir haben Tausende Euro für solche Aufklärungstätigkeiten bezahlt, die eigentlich der Staat hätte machen sollen.

Wie weit schätzen Sie, dass Sie mit den während der Kampagne angesprochenen Projekten gehen können und somit den Staatsapparat bewegen können?

Wir haben zehn Themen während der Kampagne angesprochen. Es hat aber keine einzelne Person die die Macht hat, alle diese Projekte durchzuführen. Erstens müssen wir in Rumänien die progressistische Politik stärken. Ich brauche mehr Verbündete, sowohl im rumänischen Parlament, als auch in den Behörden und sonstigen Organisationen.
Was aber wichtig ist, ist die Tatsache, dass die von mir angesprochenen Themen derzeit Mainstream geworden sind. So zum Beispiel wird das EU-Parlament einen Ausschuss für Wohnungen einführen: das „Housing Crisis“. Ich war der einzige in Rumänien, der während der Kampagne darüber gesprochen hat, erst jetzt haben auch andere begonnen. Die psychische Gesundheit ist auch ultra-wichtig auf EU-Ebene. Wir haben im Budgetausschuss über die Einführung eines Sonderhaushalts für psychische Gesundheit gesprochen. Das Recht auf Abtreibung, das ich in Rumänien angesprochen habe, ist eine europäische Initiative, die bereits über eine Million Unterschriften gesammelt hat: „My Voice, My Choice“. In all diesen Bereichen passiert bereits etwas. Denn es sind relevante, wichtige und  alltägliche Themen – es sind keine Fantasien. Es sind überaus aussagekräftige Themen.

Glauben Sie aber, dass sie auch auf nationaler Ebene eingeführt werden? Hier denke ich bei-spielsweise an die umstrittenen Forderungen nach einer zivilen Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare oder aber an die Frauenrechte ….

Da gibt es keinen Zweifel. Rumänien ist bereits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verpflichtet worden, eine Lösung für die zivile Parnerschaft zu finden. Eigentlich hätte die Lösung bereits vorliegen müssen. Und wenn wir uns nicht rasch bewegen, könnte unser Land große Bußen zahlen und auch sonstige Konsequenzen tragen müssen. Bisher hat unser Staat es bevorzugt, Strafen zu zahlen, statt etwas zu ändern. Aber ich glaube nicht, dass es sich Rumänien weiterhin leisten kann, diese Konsequenzen zu tragen. Ich bin daher eher zuversichlich, dass die zivile Partnerschaft in den nächsten fünf Jahren eingeführt wird. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind nämlich bindend.

Im EU-Parlament gibt es insgesamt 14 Vizepräsidenten, davon sind zwei Rumänen. Wie lässt sich dies erklären?

Die Vizepräsidenten wurden nicht von den Ländern, sondern von den Delegationen gewählt. Victor Negrescus Delegation ist sehr groß, es ist eine der größten im Europäischen Parlament und sitzt im Dienste der sozialistischen Familie. Ich, mit meinem spektakulären Sieg, hatte den Beistand der Grünen. Es gibt also eine wahltechnische Erklärung für beide Stellen. Aber um nochmal auf den Punkt zu kommen: die Wahl des Einzelnen zählt tatsächlich.

Viele verstehen, dass Sie sich als „Grüner“ nur um die Umwelt kümmern...

Wir, die Grünen, kümmern uns sicherlich nicht nur um die Umwelt. Sehen Sie meine Kampagne an: sie war progressistisch und hat die reellen Probleme der Bürger angesprochen. Prinzipiell sind die Grünen nicht nur umweltorientiert, sondern progressistisch, im Bereich Zentrum-Links. Ich empfinde es nicht als Schande, in Rumänien im Zentrum-Links des politischen Spektrums zu sitzen. Deswegen habe ich über die akute Krise der Wohnungen gesprochen, über psychische Gesundheit, über den Verkehr und über die zahlreichen gesundheitlichen und sonstigen Probleme, die dieser verursacht, über den Schutz der Frauen und über Abtreibung. Deswegen habe ich in der Kampagne all diese Themen angesprochen, nicht nur Umwelt.

Möchten Sie in Zukunft weiterhin unabhängig bleiben oder mehr Kräfte  bündeln und vielleicht eine eigene Partei gründen?

Das werde ich gemeinsam mit meinen Freiwilligen entscheiden. Die Gründung einer progressistischen Partei kann ich nicht alleine beschließen.

Man muss wissen, dass es auch in Rumänien moderne Stimmen gibt, die repräsentiert werden müssen. Es gibt progressistische Stimmen. Rumänien ist kein Land, das nur von Traditionen und in der Vergangenheit lebt. Es ist ein modernes Land. Und in diesem Land ist die Jugend sehr wichtig. Die Jugend ist involviert. Die Jugend ist nicht faul! Die Jugend ist tatsächlich deprimiert, weil es eine Angst bezüglich der Zukunft gibt. Ich bitte aber alle, nicht in die Stereotypie der Generalisierung zu verfallen. Was „von hinten nachkommt“ ist von sehr guter Qualität und das freut mich sehr.

Ich kann Sie nur nochmals für Ihren Erfolg beglückwünschen und Ihnen viel Erfolg für die Umsetzung all Ihrer Projekte wünschen. Danke für Ihre Zeit.