Randbemerkungen: Capricho Nr. 43

Jedes Volk sollte – und könnte – aus der/seiner Geschichte lernen. Schon die Antiken mahnten, dass „historia, magistra vitae“, „Lehrmeisterin des Lebens“, sei. Und Thukydides flüstert uns über die Jahrtausende eindringlich zu, dass die „Istoria“, die Geschichte, „ktema es aei“, „ein Gewinn für die Ewigkeit“ sei(n kann).

Die heutige Randbemerkung entsteht an dem Sonntag, an dem in Bayern und in Hessen die Landtagswahlen stattfinden. Sie wird mit ständigem Seitenblick auf die Zwischenprognosen geschrieben, die laufend einen „aktuellen“ Stand von Wahlbeteiligung und -ausgangsprognosen vermitteln wollen (aber damit auch – uneingestandenen – Einfluss auf den Wahlausgang und die -beteiligung haben…). Die durchwegs politisch korrekt sich gebenden Sender lenken den Blick obsessiv auf die AfD, den Wohlstandsbürgerschreck Deutschlands, und machen, wie selbstverständlich, Implizitwerbung für die Nationalrandalierer, die die Linken linker und die Rechten rechter zwingen. 
Man wird sich bewusst, wie leicht und leise im vergangenen Jahrzehnt der ultrarechte Flügel der Politikprofis sich in Szene setzte – bis zum Nicht-Mehr-Verdrängtwerden-Können. Demokratien gebären – wie der Schlaf der Vernunft – Monster, Ungeheuer. Goyas Graphik von 1799 „El sueño de la razón produce monstruos” ist auch nach 224 Jahren so aktuell wie am Tag ihres Entstehens. Die Ungeheuer sind heute andere als jene, die der große Spanier meinte, aber auch sie greifen mit Krallen zur Feder und sprechen vielen das Wort. Denn das Vergessen ist zwar unumgänglich fürs Hinzulernen, aber für Geschichte ist Vergessen fatal. Hier ist das Erinnern ans Unvergessliche der Schlüssel.

Durchschnittlich jeder Sechste – bis jeder Fünfte – der gesamteuropäischen Wählerschaft – bei den US-Amerikanern, Rückblick auf die Biden-Trump-Wahl, ist es jeder Zweite – zeigt in seinem Wahlverhalten, dass er rein gar nichts gelernt hat aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, ja nicht einmal aus jenen des buchstäblich auf der Haut brennenden 21. Jahrhunderts. Schauen Sie aufs fanatische gegenseitige Niedermetzeln von Palästinensern und Juden, das am vergangenen Wochenende ausbrach.

Hier, bei uns, erregt es längst kein Aufsehen mehr, geschweige denn Empörung, wenn jemand sich in aller Öffentlichkeit zum Sympathisanten der Legionäre, der Faschisten, der Kommunisten erklärt, wenn die AUr oder öffentliche Personen, inclusive Parlamentarier, fremden- und frauenfeindlich, homophob und antisemitisch, anti- oder illiberal agieren.  Es ist eine Gleichgültigkeit, die nahezu überall in Europa grassiert. Sie wurde unbemerkt länderübergreifend mehr oder weniger präsent. Ist nicht mehr wegzukriegen. Die ehemaligen „Ränder“ des Politischen, konventionell „radikal“ genannt (im Grund unverdaute Mixturen aus Links- und Rechtsextrem, gewürzt mit Konspirativem), streben zur Mitte. Einst Unsagbares wird ausgesprochen/benannt/verkündet – „Demokratie“! –, einst sozial und im öffentlichen Diskurs Inakzeptables wird zur Banalität, über die man hinwegsieht, einst moralisch Unzulässiges im Denken und Fühlen wird zum Wiederholbaren, stumpft durch repetitio ab. Holzsprache floriert. Wahllümmel Volk schluckt´s, willig, freudig, gedankenlos. Vernunftfrei.

Politische Ex-Parias schaffen es in einem Jahrzehnt in die kommunalen, regionalen oder nationalen Gremien. Die Unfähigkeit der Etablierten, der „politisch Sauberen“, im weitgefassten Rahmen der Demokratie den „Dreckschleuderern“ Schranken fürs Hochkommen aufzubauen, ebnet ihnen den Weg. Dazu trugen unausgegorene Gesetze bei (Beispiele hierzulande: die „Spargesetze“ oder das läppische „Gebildete Rumänien“), alle aufgedeckten und noch unaufgedeckten Korruptionsfälle auf höchster (und jeder) Ebene, das Wuchern des Naschismus, die balkanisch-augenzwinkernde „Flexibilität“ im Lancieren und Enthüllen von Lügen. 

El sueño de la razón…