Retter und Henker

Die Kernwaffen waren für die Sowjetunion im Kalten Krieg das wichtigste Druckmittel bei allen Verhandlungen mit der freien Welt. Gorbatschow kommt das Verdienst zu, Entspannung herbeigeführt zu haben, indem er Verträge abschloss, durch die die gegenseitige Bedrohung mittels Kernwaffen zwischen dem Westen und der UdSSR verringert wurde. Das war der Clou der Übereinkünfte, auf die sich Gorbatschow und Ronald Reagan bei ihrem Treffen 1986 in Island einigten.

Die gegenwärtige russische Führungsentourage um Putin (aber auch die gesamte Jasager-Nomenklatura, die mit Putins Segen zu Milliardenvermögen kam) hat sowohl intellektuelle Beschränktheit als auch das Fehlen jeglicher Visionen an den Tag gelegt, als sie widerspruchslos Putins jüngste Nukleardrohung hinnahm.

Aber dieser Rückfall in die Zeiten des kalten Krieges inmitten des tobenden russischen Eroberungskriegs der Ukraine ist auch der beredteste Beweis der Beschränktheit und des Scheiterns des russischen Staatsaufbaus seit Boris Jelzin und vor allem seit Putin: Russland lebt immer noch von der Illusion vorhandener Macht, vergangener Pracht. Außer der Knute – die bis zum Verbot des Verwendens von Worten geht, in Zeiten, wo man von Kommunikation lebt! – gibt es keinerlei Auswirkungen eines institutionellen Aufbaus in Russland. Die Knute ist Putin selbst, der von ihm aufgebaute Repressionsapparat nach KGB-Erkenntnissen. Nur: wenn Diktator Putin verschwindet, bricht Russland auseinander. Ohne Planung. Nicht wie bei Gorbatschow (der im Nachhinein zunehmend als einer der visionären Politiker des 20. Jahrhunderts empfunden wird).

Putins auf russisch geplanter Blitzkrieg in der Ukraine ist bereits gescheitert. Das steht fest. Jetzt ist er gezwungen, alle seine vermeintlichen Vorteile aus dem Ärmel zu ziehen – und seine immensen Kriegsreserven zu mobilisieren –, um den ihm vereint gegenüberstehenden weltweiten Westen zur Rücknahme der (endlich konkreten und greifenden) Sanktionen, die Ukraine zum Aufgeben des Widerstands zu zwingen. Schlüsselwort „zwingen“: Wladimir Putin glaubt immer noch, dass nur seine Diktatoren-Knute Wirkung zeigen kann. Bei Georgien (2008) und der Krim (2014) hat´s funktioniert. Die Welt blickte um des Friedens Willen weg. Taktik: der Gscheitere gibt nach.

Diktator Putin glaubt weiterhin, dass eine Neue (russlandgewollte) Weltordnung mit seiner Knute durchgesetzt werden kann. Aber die Welt besteht nicht mehr aus lauter russischen Muschiks, propaganda- und wodkatrunken. Jedem ist klar, dass die Putinsche Kopie des Hitlervorgehens von 1938-39 2022 nicht widerspruchslos hingenommen werden kann. Allein tiefste Verachtung für die liberale Demokratie und für den Kapitalismus und grenzenloses Vertrauen in die Überlegenheit (s)einer Diktatur (und zusätzlich die „überlegene politische Intelligenz“ eines Geheimdienstoffiziers als höchster Funktionsträger des Staates) reichen nicht aus, um einen zweiten Münchner Schiedsspruch zu erzwingen. Es frappiert die Hitlerfaszination Putins: Die Ansprüche auf die Krim und bezüglich der beiden „Volksrepubliken“ im Donbass sind nahezu gleichlautend mit den Ansprüchen Hitlers aufs Sudetenland. Putin will vorgeblich die Russen der Ukraine vor Völkermord und Nazis schützen... Blitzkrieg führen hat er seine Duckmäuser-Generäle nicht gelehrt.

Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, sein faktischer Gegenspieler, beherrscht das Geschehen durch exzellente Kommunikation und weil die Ukrainer hinter ihm stehen. Während Putin immer wieder am überlangen Tisch im Kreml oder vom Thron dozierend vor ausgewählt steifem Publikum gezeigt wird, kommt Selenskyj als Verkörperung seiner Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) daher. Und weckt Vertrauen. Putin strahlt durch Distanz Kälte und Verachtung aus. Hilflosigkeit und Angst. Sterile Stärke.

Der eine ist Retter, der andere Henker.