Russki mir, 4. Februar 2022

Putins revanchistischer Irredentismus (beide Begriffsinhalte sind etwas überdehnt, decken aber beim genaueren Betrachten die beabsichtigte Botschaft) hat seit dem 4. Februar, dem Eröffnungstag der Winterolympiade von Peking/Beijing, eine mächtige Rückendeckung. Bei eigenen finanziellen Rücklagen Russlands von geschätzt 700 bis 800 Milliarden Euro und bei den technologischen Zusicherungen Chinas, die sich Wladimir Wladimirowitsch bei seinem autokratischen Pendant Xi Jinping vertraglich für die kommenden 30 Jahre nahm, hat Russland für die Zukunft alles, um Europa und den USA zu trotzen. Und China hat seitens Russland Rückendeckung zur „Lösung“ der Taiwan-/Formosa-Frage. Man verstehe: Die unendlichen Rohstoffreserven Russlands und die Technologiespitze samt Werkbank-der-Welt China haben sich vereinigt zu einem Mittel- und Fernostblock, dem das demokratisch gespaltene EU-Europa samt einem polarisierten US-Amerika schwerlich überzeugend entgegnen können. 
Man kann sich jenen Kommentatoren anschließen, die meinen, seit dem 4. Februar sei das (ohnehin kaum je wirklich austarierte) „strategische Gleichgewicht der Welt“ gestört, wenn China und Russland miteinander paktieren. Russland stillt Chinas Roh- und Treibstoffhunger, China beliefert Russland mit jedweden gewünschten Gütern und bekommt Nachhilfe auch in Bereichen, wo es noch Schübe braucht (etwa: Raumfahrt…). Seit diesem Tag hinkt der Vergleich Putins mit Peter dem Ersten bis zur Umkehr: Wenn Peter der Große all sein Streben auf die Modernisierung Russlands nach westlichem Vorbild ausrichtete, so erfüllt Wladimir der Große das fiktive Testament Peters (die angebliche Verpflichtung aller Führer der Russen, Russland auszudehnen), indem er seit dem 4. Februar Europa den Rücken kehrt und sich den Fernen Osten ins Boot holt.

Damit will er wohl die „Geschichtskatastrophe“ des Zerfalls der Sowjetunion rückgängig machen und als Wiedervereiniger in die Geschichte eingehen, kriegt also freie Hand bezüglich Ukraine, Georgien, Moldawien, Weißrussland, Kasachstan usw. Panslawismus, polarisierende Orthodoxie und Antiamerikanismus/Antiokzidentalismus können entfesselt werden. Die devoten Telefonate und Reisen der Führer Europas zum in Moskau thronenden Zaren werden obsolet und dienen nur noch der weiteren Festigung seines Prestiges im eigenen Land.

Das Projekt der Neuschreibung der Geschichte Russlands kann starten. Wieder mit einem Krieg? Die Truppen dazu stehen für alle Fälle bereit… Allerdings sollten auch von Moskau dirigierte Regimeänderungen und politische Umorientierungen in diesen Ländern als durchaus (noch) möglich angesehen werden. Ohne Krieg. Das geopolitische Pokern geht weiter, nur hat sich Putin am 4. Februar eine Vorteilskarte verschafft.

Nichts von alldem scheint mehr seit dem 4. Februar eine Drohgebärde zu sein. Putins Besuch in Peking war sicher eine Folge des bis dahin ausgeübten Drucks seitens der Nato und der USA. Der Effekt des Drucks hat sich verflüchtigt. Auch, dass in Moskau Überlegungen zirkulieren, die Reichshauptstadt weiter nach Osten, dem Pazifik zu, zu verlegen, passt in die Neuorientierung auf die Allianz mit China. Zudem, dass der Geschichtsunterricht umorientiert werden soll, mit Asien als bedeutenderem Großraum für Russland, während Europa, das Abendland, kürzergefasst werden soll.

Der neue russisch-chinesische Machtgoliath entstand auf dem Friedensfest der Olympiade, wenn die Waffen zu schweigen haben. Und sie haben geschwiegen. Aber die Schwerter sind geschärft worden. Beide Staatschefs haben sich geeinigt auf eine Epoche der Konfrontation, der wirtschaftlich-kommerziellen Erpressung, eventuell auch militärischer Konfrontation. Opposition im Inland fürchten sie keine.

Russki mir lässt noch viele Möglichkeiten offen. Nur eine nicht: Dass Russland diese Krise noch weiter geschwächt überlebt.