„Salvați Copiii“-Untersuchung: Kinder allein zuhause

Offizielle Daten für die Westregion zu den Kindern, deren Eltern im Ausland arbeiten

Die Schlussfolgerungen der regionalen Erhebung wurden in Temeswar auf einer Konferenz mit Vertretern lokaler Behörden, Schulämter und anderer relevanter Institutionen der vier Verwaltungskreise diskutiert.

Etwa jedes vierte Kind in Rumänien hat die traumatische Erfahrung gemacht, für längere Zeit während seiner Kindheit von einem oder beiden Elternteilen getrennt zu sein. | Fotos: Salvați Copiii

Bei einem von sieben Kindern in der rumänischen Westregion haben ein oder beide Eltern im letzten Jahr im Ausland gelebt und gearbeitet: Genauer sind es 48.177 Kinder, was 14,7 Prozent der Kinder in der Region entspricht. Bei einem von fünf Kindern, deren Eltern im Ausland arbeiten, ist die Mutter dort berufstätig, und bei einem von 14 Kindern arbeiten beide Eltern im Ausland. In zwei Dritteln der Fälle, in denen beide Eltern abwesend sind, übernimmt die Großmutter die Kinderbetreuung. Ein Viertel der Kinder mit einer abwesenden Mutter in der Region benötigte psychologische Beratung (deutlich mehr als im Landesdurchschnitt). 

Schulabbruch und schlechtere Gesundheit gehören zu den Lasten, die Kinder infolge der wirtschaftlichen Abwanderung der Eltern zu tragen haben. So lauten die Daten einer Untersuchung, die in diesem Jahr vom Verein „Salvați Copiii“ („Rettet die Kinder“) in der Region – in den Verwaltungskreisen Temesch/Timiș, Arad, Hunedoara und Karasch-Severin durchgeführt wurde. Die Schlussfolgerungen der regionalen Erhebung sowie Vorschläge für Maßnahmen zur Unterstützung dieser gefährdeten Kategorie von Kindern wurden in Temeswar/Timișoara innerhalb einer Konferenz über die Situation von Kindern, deren Eltern im Ausland arbeiten, in der Westregion diskutiert. Vertreter lokaler Behörden, der Schulämter und anderer relevanter Institutionen aus den vier Verwaltungskreisen nahmen daran teil. Die Tagung wurde vom „Salvați Copiii“-Verein und dem Außenministerium in Temeswar organisiert. Die Veranstaltung war die erste in einer Reihe von regionalen Veranstaltungen.

Die Studie zur Bewertung der Situation von Kindern mit im Ausland arbeitenden Eltern in der Westregion wurde im Jahr 2022 an einer Stichprobe von 500 Familien durchgeführt und ist Teil der nationalen Studie zum selben Thema. Sie wurde im Rahmen des Projekts „Komplexe Unterstützungsdienste für Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten“ durchgeführt, ein Projekt, das vom Europäischen Sozialfonds über das operationelle Programm Humankapital kofinanziert wird. Die quantitative Analyse wurde durch Interviews mit Kinderschutzspezialisten und Fokusgruppen mit Kindern, deren Eltern im Ausland arbeiten, in „Salvați-Copiii“-Unterstützungszentren ergänzt. 

Die Studie hatte zwei Richtungen: Schätzung der Anzahl der Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil während ihrer Kindheit im Ausland gearbeitet hat, und Schätzung der Auswirkungen dieser Lage auf die Kinder. Daten auf der Bevölkerungsebene der Kinder in Rumänien zeigen, dass bei mehr als einer halben Million Minderjähriger mindestens ein Elternteil im letzten Jahr im Ausland gearbeitet hat. Fast eine Million Kinder (über 950.000) haben oder hatten die Erfahrung, dass ein Elternteil während ihrer Kindheit weggezogen ist, d. h. etwa jedes vierte Kind hat die traumatische Erfahrung gemacht, für längere Zeit von einem oder beiden Elternteilen getrennt zu sein. Für das Kind, das zu Hause zurückbleibt, ist der Weggang des Elternteils ein Trauma, oft das schwerste überhaupt. Bei einem Drittel der Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten, sind beide Elternteile oder der alleinverdienende Elternteil weg. Für diese Kinder ist die Trennung wesentlich schwieriger zu ertragen. 

Der Kontakt zu den Eltern findet in den meisten Fällen täglich statt, hauptsächlich über soziale Medien. Wenn die Kinder älter werden, nimmt die Häufigkeit der Kommunikation ab, und einer von fünf Teenagern spricht nur noch zwei bis drei Mal pro Woche mit seinen Eltern. Die meisten Eltern schicken monatlich Geld nach Hause, um ihre Familien bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten zu unterstützen. Daten der Weltbank zeigen, dass die Rumänen im Jahr 2021 umgerechnet mehr als 9 Milliarden Dollar an ihre Familien schickten, wobei der Großteil des Geldes für Lebensmittel, den Unterhalt des Haushalts und die Ausbildung der Kinder ausgegeben wurde. 

Deutschland gehört zu den Zielländern

Erhebungsdaten für die Westregion zeigen, dass das Durchschnittsalter des Kindes bei der ersten Abreise der Mutter 7 Jahre beträgt. Mütter, die weggezogen sind, sind meist die Alleinverdienerinnen. Väter, die wegziehen, sind meist verheiratet und ziehen weg, wenn das Kind im Vorschulalter (5 Jahre alt) ist. Der Elternteil, der das Land verlassen hat, entweder die Mutter oder der Vater, hat im Durchschnitt eine niedrigere Schulbildung (10 Klassen oder nicht abgeschlossenes Gymnasium). 10.084 der Kinder aus der Region haben einen oder beide Elternteile im Ausland und leben ohne direkte elterliche Betreuung.

Österreich, Deutschland und Italien sind die wichtigsten Zielländer für Mütter aus der Westregion, wo sie vor allem in der Altenpflege, in der Landwirtschaft und in der Hausarbeit beschäftigt sind – darunter in Österreich, Deutschland bzw. Italien. Die Väter sind vor allem im Transportwesen, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft tätig – die meisten davon arbeiten in Deutschland, Italien und in  England. 

Die Mehrheit der Eltern schickt systematisch Geld nach Hause, um die Ausgaben der Familie zu decken, und zwar häufiger (monatlich) als im nationalen Durchschnitt. Die Studie zeigt, dass für Mütter, die die Region verlassen, der Bedarf an Geld für die Ausbildung ihrer Kinder ein wichtigerer Grund für die Abreise ist als im nationalen Durchschnitt. In einem großen Teil der Fälle, in denen die Mütter oder beide Elternteile weg sind, bringt die Arbeit im Ausland keine wesentliche Verbesserung der Wohnsituation mit sich, und die Armut bleibt bestehen, insbesondere bei den Müttern, die weggegangen sind. In einem Drittel der Familien mit einer abwesenden Mutter liegt das Haushaltseinkommen unter oder am Existenzminimum. 

Schlechte gesundheitliche Auswirkung

Für die zurückgebliebenen Kinder hat das Phänomen eine schlechte Auswirkung auf die Gesundheit. Auf regionaler Ebene ist der Anteil der Kinder mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund der Abwesenheit der Eltern dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt bei Kindern in einer ähnlichen Lage, und fünfmal so hoch wie bei Kindern, deren Eltern nicht ins Ausland gegangen sind. Mehr als die Hälfte der Kinder mit Eltern im Ausland mussten im letzten Jahr mindestens zweimal medizinisch versorgt werden. Die Gesundheitsprobleme betreffen Schlafstörungen, Essstörungen (Magersucht oder Bulimie), Panikzustände, Körperschmerzen aufgrund von Internalisierungsdefiziten, Angstzustände und Depressionen, den Konsum verbotener Substanzen oder ein Übermaß an schädlichen Substanzen sowie selbstverletzende Tendenzen. 

Ein Viertel dieser Kinder benötigte psychologische Beratung (deutlich mehr als im nationalen Durchschnitt) und Sprachtherapie. Unsicherheit, Trennungsangst, Unfähigkeit, mit der Abwesenheit des Elternteils zurechtzukommen, Angst vor dem Verschwinden des abwesenden Elternteils sind bei Kindern mit Eltern, die im Ausland leben und arbeiten, wesentlich häufiger vorhanden als im Landesdurchschnitt, wenn es um psychologische Beratung geht. Jedes vierte Kind mit einer im Ausland arbeitenden Mutter in Westrumänien, das Beratung in Anspruch genommen hat, ist mit der Schule überfordert. 

Die Schulabwesenheit ist somit in der Region bei diesen Kindern deutlich höher (+50 Prozent) als im Landesdurchschnitt. Der Anteil der Kinder, die von Schulabbruch betroffen sind, ist in der Westregion etwa zehnmal höher als der nationale Durchschnitt bei Kindern mit ähnlichen familiären Hintergründen. Der Schulabbruch betrifft Kinder nach dem 14. Lebensjahr, insbesondere wenn der Vater abwesend ist. 

Schulüberforderung und Gewaltopfer 

Auch die Häufigkeit von Bullying in der Schule ist bei diesen Kindern in der Westregion doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Alkoholkonsum, Drogenmissbrauch und Rauchen sind, insbesondere wenn die Mutter oder beide Elternteile abwesend sind, im Vergleich zum nationalen Durchschnitt etwa dreimal so häufig. Solche Kinder weisen auch ein um 50 Prozent höheres Risiko auf, in der Schule Opfer von Gewalt zu werden, und ein 30 Prozent höheres Risiko, selber in der Schule zu schikanieren. Das Gefühl, weniger geliebt und umsorgt zu werden, ist um viermal höher als bei anderen Kindern, deren Eltern nicht im Ausland arbeiten. 

„Das Phänomen, dass Kinder nach der Wirtschaftsmigration der Eltern in der Obhut von Verwandten bleiben, ist bereits ein Mehrgenerationenphänomen. Deshalb entwickelt sich das Programm des Salvați-Copiii-Vereins Jahr für Jahr weiter und ist auf die tatsächlichen Bedürfnisse dieser sozialen Kategorie zugeschnitten, die zu einem der Markenzeichen des postkommunistischen Rumänien geworden ist“, so Mihai Gafencu, Vorsitzender von „Salvați Copiii“ Rumänien. 

Das Ausmaß des Phänomens der Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten, hat 2010 zur Entstehung von spezialisierten Diensten für Kinder, ihre Eltern und Betreuer geführt. „Mehr als 14.000 Kinder und 9000 Erwachsene, entweder Betreuer oder Eltern, haben bisher direkte Interventionsdienste in Anspruch genommen (psychologische und soziale Beratung, schulische Unterstützung und Sozialisierungsmaßnahmen für Kinder; Elternbildung, Sozialberatung und Rechtsberatung für Erwachsene). Mehr als 130.000 Menschen, Eltern, Kinder und Fachleute wurden über die negativen Auswirkungen des Wegzugs der Eltern auf die zu Hause gebliebenen Kinder und die Pflichten der Eltern beim Verlassen des Landes informiert. In Westrumänien haben wir 3200 Kinder und ihre Betreuer in Betreuungszentren in Städten wie Reschitza, Hundeoara, Lupeni, Petrila, Vulcan, Petroșani, Temeswar und Großsanktnikolaus unterstützt“, schließt Mihai Gafencu.