Späte Familiengründung in Rumänien: Warnzeichen oder normale Entwicklung?

Demografische Trends während der letzten Jahrzehnte

Trend zur späten Ehe: Laut INS lag 2020 das durchschnittkliche Hochzeitsalter der Frauen bei 30,8 Jahren.

Trend zum Glück zu zweit: Laut einer 2021 veröffentlichten Studie der Universität Michigan wünschen sich knapp 27 Prozent der Studenten überhaupt keine Kinder.

Immer mehr Menschen bleiben bis in ihre 30er oder 40er Jahre Single, weil die berufliche Selbstverwirklichung im Vordergrund steht.

In fast der Hälfte aller EU-Haushalte lebt nur ein Kind.

Nach der Wende hat sich die traditionelle Einstellung zur Familie und zu Beziehungen in den Reihen der jüngeren Bevölkerung Rumäniens drastisch verändert im Vergleich zu ihren Eltern. Die Institution der Familie scheint immer flüchtiger zu sein, es wird immer später geheiratet, es werden weniger Kinder gezeugt, bzw. immer mehr von unverheirateten Frauen geboren. Trotzdem bleibt Rumänien eines der EU-Länder mit der höchsten Anzahl an Eheschließungen und den wenigsten Scheidungen, laut Eurostat. Was hat zu dieser demografischen Änderung geführt und was könnte die Zukunft bringen?

Die Daten des Nationalen Instituts für Statistik (INS) bieten einen Einblick in die gewaltige demografische Änderung in Rumänien seit der Wende. Wenn vor 1990 eine Frau normalerweise im Alter von 21 bis 22 Jahren heiratete und mit durchschnittlich 22,3 Jahren ihr erstes Kind bekam, lag das durchschnittliche Hochzeitsalter der Frauen im Jahr 2020 bei 30,8 Jahren, bzw. bei 27,5 Jahren für die erste Geburt. Auch die Anzahl an Eheschließungen pro Jahr pro Tausend Einwohnern ist nach der Wende von 8,3 auf 6,5 gefallen. Die einzige Konstante bleibt der knapp 3,5-jährige Altersunterschied zwischen den Ehepartnern. 

Knapp 45 Prozent der neuen Mütter waren jedoch bei ihrer ersten Geburt über 30 Jahre alt – im Vergleich zu 2019 mit 43,9 Prozent – was im Landesdurchschnitt den Trend zur späten Mutterschaft betont. Gleichzeitig ist zu bemerken, dass vor der Wende rund 97 Prozent der Kinder innerhalb einer Ehe gezeugt wurden, wobei derzeit 31,3 Prozent der Kinder von nicht verheirateten Frauen zur Welt gebracht werden (1992 waren es bereits 15 Prozent). 

Die Anzahl Scheidungen pro Tausend Einwohnern ist hingegen von 1,42 im Jahr 1990 auf 1,36 im Vor-Pandemie-Jahr 2019, bzw. auf 1,03 im Jahr 2020 gefallen. Die offiziellen Statistiken bestätigen, was Soziologin Raluca Mardare in ihrer Doktorarbeit als generelle „Verzögerung der Hochzeit, Vorliebe für ein Zusammenleben vor der Hochzeit, aber auch eine Stabilität der Ehe nach deren Schließung“ resümiert.

Motive für späte Familiengründung

Soziologen und Psychologen sind sich einig, dass soziale und wirtschaftliche Änderungen die Bevölkerung und deren Struktur stark beeinflusst haben. Die höhere Geburtenrate wurde noch vor einem Jahrhundert durch eine hohe Sterberate kompensiert. Danach hat aber die Minderung der Sterberate durch medizinische Entwicklungen sowie die Industrialisierung, Urbanisierung, soziale und berufliche Mobilität, die Erhöhung des Bildungsgrades der Frauen und ihr wachsender Einfluss in der Gesellschaft sowie die weitläufige Einführung der Anti-Baby-Pille zu einer geringeren Geburtenrate geführt. Gleichzeitig hat sich die Bevölkerung weltweit – wenn auch zeitversetzt in unterschliedlichen Regionen und Ländern – von einem altruistischen Familienmodell wegbewegt, welches Familie und Kinder an erste Stelle setzt. Statt dessen hat sich das  individualistische Lebenskonzept verbreitet, in dem das Individuum größere Freiheit hat, sein eigenes Leben aufzubauen, zentriert um Beruf und Karriere. Aber auch im Privatleben spielt das Kind eine weniger wichtige Rolle. Die eigenen Bedürfnisse haben einen höheren Stellenwert  im Vergleich zur traditionellen Auffassung oder sozialem Druck, wie INS-Experten unterstreichen. Gleichzeitig spielen auch berufliche Unsicherheit, Stress oder die ständig steigenden Lebenskosten eine wichtige Rolle bei der Frage, weswegen sich die jüngere Generation erst auf Karriere und danach auf Familie fokussiert. Im Westen, weniger in Rumänien, kommen noch ethische Gründe hinzu, etwa Kritik an der Konsumgesellschaft und Klimaangst: In eine solche Welt will man keine Kinder setzen.

Single, alleinerziehend oder kinderlos

Durch den Drang nach Individualität und dem Wunsch nach Karriere wird die Familiengründung aufgeschoben. Immer mehr Menschen bleiben bis in ihre 30er oder 40er Jahre Single. Andererseits ist man mit zunehmendem Alter immer weniger geneigt, Kompromisse einzugehen. Viele bevorzugen, entweder gar keine feste Beziehung mehr einzugehen oder sie pflegen eine Beziehung, in der man nicht mit dem Partner zusammenwohnt. Zwischen 2010 und 2020 ist die Anzahl kinderloser Ein-Personen-Haushalte in Europa um knapp 20 Prozent gestiegen. Derzeit werden fast die Hälfte der kinderlosen  Haushalte Europas von Singles bewohnt: Ein Viertel der europäischen Frauen sowie ein Fünftel der Männer leben alleine. Rumänien, mit seinen durchschnittlich 2,6 Personen pro Haushalt (Rang 2 in Europa) liegt derzeit weit weg davon. 

Auch die Anzahl Alleinerziehender ist in Rumänien (ähnlich wie fast im gesamten Balkan) mit nur sieben Prozent eher klein. Im EU-Durchschnitt sind es 14 Prozent. Über ein Fünftel der westeuropäischen Familien basiert auf Alleinerziehenden. In Deutschland sind es knapp über 20 Prozent, Tendenz steigend. 

Laut einer im Jahr 2021 veröffentlichen Studie der Universität Michigan, USA, würden sich knapp 27 Prozent der Studienteilnehmer überhaupt keine Kinder wünschen, wobei sie sich jedoch nicht minder glücklich oder froh fühlen als diejenigen, die sich Kinder wünschen, auch wenn sie von der Mehrheit teilweise stigmatisiert werden. Eine Studie der Amerikanischen Soziologiegesellschaft hat sogar herausgefunden, dass kinderlose Paare weniger depressiv sind. Und laut Eurostat ist die Anzahl der kinderlosen Haushalte zwischen 2010 und 2020 um 11,2 Prozent gestiegen, und in fast der Hälfte aller EU-Haushalte lebt nur ein einziges Kind.

Die Rolle der Religion

Bei der Suche nach den Ursachen liegt die Vermutung nahe, dass auch die Religion eine wichtige Rolle spielt bei der Familiengründung. Während sich in Eu-ropa durchschnittlich knapp 25 Prozent der Bevölkerung als agnostisch oder atheistisch bezeichnet, liegt in Rumänien dieser Anteil bei nur rund 0,21 Prozent. Somit ist das formelle Einhalten bestimmter religiöser Werte und Traditionen viel wichtiger in unserem Land als im Westen und wirkt sich sicherlich auch auf die Institution der Familie und die Familiengründung aus. Beweise diesbezüglich bietet ebenfalls das Statistikamt: In den letzten zehn Jahren wurden immer mehr Kinder entweder kurz vor oder bis zu zwei Jahren nach Eheschließung gezeugt. Mit anderen Worten haben Paare oftmals geheiratet, nachdem sie erfahren haben, dass Nachwuchs unterwegs ist.

Ebenfalls aus religiösen Gründen ist wahrscheinlich Rumänien weit weg von den durchschnittlichen EU-Zahlen, gemäß deren knapp die Hälfte der kinderlosen Erwachsenen (über 15 Jahre alt, gemäß Eurostat) in einer Partnerschaft, jedoch unverheiratet, unter einem Dach leben. 

Ausblick

Die demografischen Änderungen im Familienleben und in der rumänischen Gesellschaft nach der Wende scheinen somit dieselben zu sein, die in den 60er und 70er Jahren im Abendland stattfunden haben. Rumänien scheint also nicht ungewöhnlich, sondern nur „verspätet“ zu reagieren, wobei diese Verspätung größten-teils auf die kommunistische Familienpolitik zurückzuführen ist. Aufgrund der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung nach der Wende folgt unser Land nun dem Pfad der westlichen Länder: späte Eheschließung, weniger Kinder pro Familie, höheres Alter bei der Erstgeburt – dies alles verstärkt im städtischen Raum. 

Andererseits haben Traditionen, Religion und hierzulande noch häufigere Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach einen weitaus höheren Einfluss auf die rumänische Jugend als im Westen. Die EU-Statistik bestätigt: In Rumänien gibt es mehr Ehen und weniger Scheidungen als in anderen Mitgliedsstaaten.

Auch wurden gezielte Regierungsprogramme zur Unterstützung junger Familien bereits vor knapp zwei Jahrzehnten eingeführt und haben ihren Anteil an der Festigung der Familie geleistet.

Dementsprechend könnte tatsächlich behauptet werden, dass die Institution der Familie in Rumänien zwar etwas Grund verloren hat, jedoch weiterhin auf religiösen und traditionellen Pfeilern wahrgenommen wird. Die Einstellung zukünftiger Generationen gegenüber der Familienplanung werden in Zukunft familienfördernde Regierungsmaßnahmen und Religionstreue prägen, aber auch die fortschreitende Urbanisierung und die wachsende Rolle der Frauen in Beruf und Gesellschaft. Dabei bleibt die spannende Frage offen, ob Rumänien dem polarisierenden Trend des Westens weiter folgt – Individualität und Karriere versus „Selbstaufgabe“ in Familie – oder einen eigenen Weg findet.