Stangenlecken für die Gesundheit

Zugebissen

Seit Ausbruch der Covid-Pandemie sind immer wieder neue Begriffe plötzlich in aller Munde: Infektionskurve war so eines (damals, als man noch um ihre Flachheit bemüht war), dann sprach man von der drohenden 2. Welle (als die Wellen noch zählbar waren), wir haben in der Pandemie gelernt, was Inzidenzen, Reproduktionszahlen und Spike-Proteine sind. Seit die Spitäler wieder an bzw. über der Belastungsgrenze arbeiten und insbesondere die Kinderabteilungen überfüllt sind, weil jetzt neben Corona- auch Influenza- und RSV-Viren ungehindert zirkulieren können, ist ein neuer Begriff aufgetaucht: Immunschuld. Dabei handelt es sich aber im Gegensatz zu den vorher genannten nicht um einen medizinischen Fachbegriff, der anlassbezogen plötzlich allgemeine Bekanntheit erlangt, sondern um einen Kampfbegriff aus der Coronaleugner-Ecke.

Was er behauptet: Weil unser Immunsystem durch Sicherheitsmaßnahmen so lange nicht mit Krankheitserregern konfrontiert gewesen sei, würden wir jetzt alle krank. Weil: Wir „schulden“ unserem Immunsystem das Training an echten Viren. Das hieße also: Wir sollten nach Westafrika fahren, um unser Immunsystem an Ebola zu trainieren, weitere Reisen wären für Malaria, Dengue-Fieber oder Cholera nötig. Kondome sollten verbannt und Promiskuität propagiert werden – damit möglichst viele Menschen in den Genuss einer gesundheitsfördernden HIV-Infektion kämen, mit etwas Glück auch Syphilis oder einen kleinen Tripper? Wir sollten mit den an der Vogelgrippe verendeten Schwänen aus Suceava kuscheln, in der Hoffnung, dass das H5N1-Virus endlich den heilsamen Sprung auf uns Menschen schafft. Und vor dem Aussteigen aus der U-Bahn sollten wir ein wenig an den Haltestangen lecken, in der Hoffnung auf ein paar Pocken-, Hanta- oder Hepatitis-Viren.

Das alles ist offensichtlich Unsinn – wie eben die Behauptung Unsinn ist, dass Infektionen mit gefährlichen Viren nötig seien, damit unser Immunsystem gefährliche Viren bekämpfen kann. Das Problem ist: Es ist gefährlicher Unsinn. Es wird damit gefordert, dass wir uns nicht vor Krankheiten schützen dürfen, dass die Schutzmaßnahmen, die unzählige Leben gerettet haben, eigentlich schädlich gewesen seien. Dass also Schutz vor Krankheiten schlecht und Krankheiten gut wären – was auch ein wenig nach Eugenik stinkt: Schutzbefohlene, wie etwa Kinder, alte oder kranke Menschen, werden damit vor den Bus geworfen.

Und die Sache mit dem Immunsystem ist weitaus komplizierter: Das funktioniert nicht wie ein Muskel, der ohne Training schwach wird. Wir haben im Grunde wenig Einfluss da-rauf – gut essen oder schlafen hilft, Viren definitiv nicht. Bakterien eher, aber das ist eine ganz andere Geschichte – bis zu zwei Kilo von ihnen leben friedlich in und auf unseren Körpern, ohne sie wäre unser Organismus nicht überlebensfähig. Und sie spielen auch eine Rolle in der Entwicklung unseres Immunsystems. Dabei geht es aber eher um solche, die mündlich aufgenommen werden – eine interessante Studie gibt es da zu Bauernhofkindern und Kuhmist. Dass Viren irgendwie gut für uns seien, dafür gibt es dagegen keine Anzeichen. Und wer sich einbildet, ein so „starkes“ Immunsystem zu haben, dass Covid-19 ihm nichts anhaben kann, sei nebenbei gesagt: Bei einem schweren Verlauf erhalten Erkrankte oft immununterdrückende Medikamente wie Kortisol – weil das Immunsystem sich durch das Coronavirus gegen uns richten, sprich, uns umbringen kann. Je stärker, desto gefährlicher.

Statt eines Muskels kann man sich eher ein Album mit Fahndungsfotos vorstellen: Manche (beileibe nicht alle!) Erreger merkt sich das Immunsystem und kann sie bei der nächsten Infektion erfolgreich bekämpfen. Oder man ist geimpft: Dann wurde das Fahndungsfoto quasi ins Album gelegt, bevor das Verbrechen verübt werden konnte. Manche Viren, wie etwa der Masernerreger, können diese Bilder löschen: Die genesene Person ist dann wieder anfällig für Erkrankungen, gegen die sie eigentlich immun war. Früher war es besser, die Masern als Kind zu bekommen, weil die Überlebenschance etwas höher war als für Erwachsene. Besser wäre es natürlich gewesen, sie gar nicht zu bekommen – was heute dank Impfung möglich ist.

Auch bei Covid schützt die Impfung recht zuverlässig vor schweren Verläufen, und zumindest ein bisschen auch gegen Langzeitschäden. Was nicht gegen Covid hilft: sich infizieren. Es gibt keine Immunität durch Infektionen – mehr Covid führt nicht zu nicht weniger Covid. Mit jeder Infektion wird das Immunsystem geschwächt, und das Risiko für einen schweren Verlauf und langfristige Schäden steigt mit jedem Mal. Wenn wir unserem Immunsystem etwas „schulden“, dann, dass wir es angemessen schützen. Anders gesagt: Nach der U-Bahn die Hände waschen, nicht dran lecken.