Unrechtmäßiges im Schatten eines  „Weißen Hauses“

Hermannstadt bräuchte mehr Schutz vor dem Wachstum in die Höhe

Hermannstadts „Weißes Haus“ soll verdecken, was hinter ihm genauso hoch genehmigt und gebaut werden möchte: Altes Unrecht als Schutz für neues Unrecht Foto: Klaus Philippi

„Podul Minciunilor“ heißt sie auf Rumänisch, und tatsächlich steht der gusseisernen „Lügenbrücke“ auch 165 Jahre nach Konstruktion ihr Name noch immer blendend. Denn wer seinen Fuß auf sie setzt, wird augenblicklich mit dem schönsten Rundumblick belohnt, den es am Übergang zwischen Kleinem Ring/Pia]a Mic² und Huetplatz nur auszukosten gibt: der vor gut 800 Jahren geplante Ratsturm mit Zwiebeldach, spätmittelalterliche Arkaden, das in früherer Zeit als „Fleischerlauben“ gerühmte Schatzkästlein/Casa Artelor des Astra-Museums, und am westlichen Brückenkopf für kleinen oder großen Durst und Hunger das Café „Atrium“. Aber nicht nur zum Trinken, Essen und Entspannen muss man sich nur ein paar Schritte von der Lügenbrücke entfernen, nein. Dort etwa, wo an lauen Abenden das hellbraune Gaststätten-Klavier gespielt wird, zeigt sich mit der Türe vom „Atrium“ im Rücken leider auch ein Panorama-Ausschnitt mit einschneidender Vergangenheit und womöglich ebenso unschönen Folgen. 

Die Lügenbrücke selber nämlich versperrt den Blick auf die Immobilie kommunistischen Datums, worin seit Sommer und Herbst 2020 der Hermannstädter Gerichtshof seine Geschäfte abwickelt. Sie ist sieben Etagen hoch. Ein sozialistischer Plattenbau, der irgendwie nicht ins Stadtbild passen möchte, ganz gleich, wie man daran auch dreht.

Im Kontrast zum wohnblockartigen Quader am nördlichen Rand des Altstadtkerns liegen zum Einen die von der Lügenbrücke aus fast senkrecht auf ihn zuführende Burgergasse/Strada Ocnei, und hinter dem gleichen Plattenbau noch viel stärker das aufgelassene Fabrik-Gelände mit seinen über 30 Werk- und Industriehallen aus der Gründungszeit der Metallbau-Firma „Rieger“ ab 1875. Weder handwerklich noch maschinell herrscht in ihnen Betrieb, und das seit etlichen Jahren. Herrenloses Gebiet aber ist das Werksgelände nicht, sondern Eigentum der privaten Gesellschaft S. C. Casa Alb² Independen]a S. A., von deren kommunistischer Vorgängerin das sozialistische Bürogebäude seinen Namen „Weißes Haus“ geerbt hat, und deren Aktien mehrheitlich dem staatlichen Transilvania Investments Alliance Fonds gehören.

Gebäudevernachlässigung zudem ist nicht das Einzige, was die kommunistische Zwangsverstaatlichung dem Industrie-Standort brachte. Auch ein gut 200 Meter langes Teilstück der Burgergasse, das topografisch mitten durch das Werksgelände des profitablen Betriebs „Rieger“ verlief, wurde im kommunistischen Rumänien genau deshalb für die Öffentlichkeit gesperrt und leider bis heute immer noch nicht wieder zur allgemeinen Nutzung freigegeben. Wo 2017 der Versuch des Hermannstädter Rathauses scheiterte, sich die Schlusspassage der Burgergasse bis zum Ufer des Zibin entschädigungslos und in beiderseitigem Einvernehmen von der S. C. Casa Albă Independența S. A. zurückzuerbitten, wurde 2019 von der Stadtverwaltung zum selben Zweck das betreffende und über Jahre hin so gut wie aussichtslose Gerichtsverfahren eröffnet. Ob es überrascht, dass man sich kürzlich im Aufsichtsrat der S.C. Casa Albă Independența S.A. entschied, zuvorkommendere Töne anzuschlagen? Nicht ganz.

Mitte Juli berichtete die Online-Lokalzeitung „Turnul Sfatului“ vom Ansuchen des Hermannstädter Rathauses beim Berufungsgericht in Karlsburg/Alba Iulia, die Prozess-Fortführung aufzuschieben, weil die miteinander um das Burgergasse-Teilstück streitenden Entitäten sich auf ein konfliktloses Beilegen des Falls geeinigt hätten. Dass im Jahr 2023 sage und schreibe 20 von den 32 historischen Werkhallen durch einen in Bukarest gefällten Gerichtsentscheid ihren bis dahin gültigen Baudenkmal-Status verloren haben, liest sich beileibe nicht wie ein Detail am Rande. Die S. C. Casa Albă Independența S. A. ist nicht allein darauf aus, Hermannstadt wieder die vollumfängliche Verwaltung seiner Burgergasse zu ermöglichen. Sie geht frontal in die Offensive, fordert ein Tauschgeschäft. Mit Selbstlosigkeit hat es nichts zu tun.

Den 20 nicht mehr als Baudenkmäler zählenden Werkhallen droht Abriss. Bereits Ende November 2022 war die Dokumentation von der S. C. Casa Albă Independența S. A. auf Errichtung eines Wohn- und Büroviertels auf dem stillgelegten „Independența“-Gelände fertiggestellt worden. Burgergassen-Teilstück zurück an die Stadt und im Gegenzug die Erlaubnis, beiderseits dieser jahrzehntelang gesperrten Verkehrspassage Neues bauen zu dürfen. So furchtbar schlecht wäre das gar nicht, natürlich. Doch die Angelegenheit hat einen Haken.
Hermannstadts neuer Plan zur Verstädterung (Planul Urbanistic General, PUG) schließlich ist längst schon überfällig, steckt aber noch in der Endausfertigung. Chefredakteur Călin Blaga von der Online-Lokalzeitung sibiuindepen

dent.ro dagegen tippte schon Ende März richtig mit der Information, dass auch der hoffentlich bald aktualisierte und rechtlich gültige PUG das Bauen von sechs bis acht Etagen über einem Erdgeschoss nur etwa an der Ausfahrt Richtung Kleinscheuern/Șura Mică genehmigen wird. Höher als drei oder vier Stockwerke hat in der Altstadt noch niemals gebaut werden dürfen, und dabei wird es auch bleiben. Just beim Bau des „Weißen Hauses“ dafür, worin der Hermannstädter Gerichtshof einquartiert ist, wurde seinerzeit das städtebauliche Limit schlicht überzogen. Zu kommunistischer Zeit, wohlgemerkt. Das Neubau-Projekt der S.C. Casa Albă Independența S.A. für ihr eigenes Areal am Flussufer rund um die Burgergasse wäre somit überhaupt kein Präzedenzfall.

Welcher Architekt für das Neubau-Projekt auf dem Fabrik-Gelände der nichts mehr produzierenden „Independen]a“ bürgt? Alexandru G²vozdea, Technokrat und am zweiten Juni-Sonntag als parteiloser Kandidat vom Start weg auf Platz zwei der Bürgermeisteramtswahl gelandet. Seine Dokumentation des Gewünschten verteidigt er auch und gerade mit der beträchtlichen Höhe des „Weißen Hauses“, der das neue Wohn- und Büroviertel keine Konkurrenz bieten, sie aber auch nicht unterbieten würde. Sollte in der Tat gebaut werden, was der S.C. Casa Albă Independența S.A. und Alexandru Găvozdea für ihr Zielterrain in der Unterstadt vorschwebt, würde bloß ein Fehler perpetuiert, dessen Ursprung in diktatorischer Epoche liegt, mehr nicht. Aber ein umso schwererer Fehler, der es verdiente, gestraft zu werden. Diejenigen leider, in deren Kompetenz – und Macht? – es steht, ihn wirklich zu korrigieren, scheinen nur in der Vertikale auf Baustellen Verlässlichkeit zu pflegen. Moralische Aufrichtigkeit ist anders.

Stand derzeit soll das Berufungsgericht Karlsburg laut der Online-Zeitung „Turnul Sfatului“ verfügt haben, dass das Hermannstädter Rathaus und die S. C. Casa Albă Independența S. A. sich betreffend die Causa der Burgergasse bis Mitte November einvernehmlich auf Schlichtung einigen – genau die Frist, die dem Stadtrat vor Beginn eines neuen Mandats in aufgemischter Besetzung noch gegeben ist. Am aktuell scheidenden Stadtrat ist Architekt Alexandru Găvozdea bereits einmal bezüglich des Altstadtkerns überdeutlich gescheitert (die ADZ berichtete mehrmals). Lockerlassen jedoch sieht ihm nicht ähnlich. Irgendwo wird er den Widerstand hartnäckigst zu brechen versuchen. Es sei denn, man lässt ihn mächtig Gegendruck spüren – den zu bauen Selbstbewusstheit erfordert und kollektiv verdammt schwierig sein kann.