Versuchung Unsichtbarkeit

Dass Unsichtbarkeit Macht ist und zu Macht-Missbrauch führen kann, das illustriert Plato seinem Bruder Glaukon in der Politeia mit einer Version des Herodotschen Mythos´ von der Machtergreifung des Griechen Gyges im Königreich Lydien, dem Stammvater der Mermnaden-Dynastie. Der Goldring mit magischer Kraft zum Unsichtbarmachen, den der Hirt Gyges findet, verleiht ihm Macht am Hof des Königs Kandaules, die er missbraucht, um Königin Rhodope zum Ehebruch zu verführen, den König, seinen Freund und Gönner, zu töten und durch die Heirat mit Rhodope selbst König zu werden. Plato illustriert mit dieser spannend-schlüpfrig-blutigen Geschichte die unwiderstehliche Versuchung zum Missbrauch, die die Macht darstellt. Gelegenheit macht den Dieb, auch das rumänische Sprichwort vom „unerwischten Dieb“, der ein „ehrlicher Händler“ ist, passen ins Umfeld der Geschichte von Gyges und seinem Ring (bei Hebbel, heute durchaus aufführenswert, werden die Akzente betont aufs Ethische gesetzt).

Die Geschichte des Gyges passt gut auch in unsere pandemischen Zeiten, zum Fernunterricht, zu diversen Vorkommnissen zwischen Sendern und Empfängern im Unterrichts- oder Prüfungsprozess. Denken wir nur an die vier Dutzend Jurastundenten der Bukarester Universität, die wegen Erwischtwerden beim Kopieren während der Prüfung exmatrikuliert wurden – sie wähnten sich unsichtbar (da macht Gyges doch Winke-Winke!) und schrieben ab auf Deibl-komm-raus – oder an die braven Mathematikschüler, die an einem Online-Wettbewerb der „Gazeta de matematică“ „mit aktiver Unterstützung“ von Eltern und Nachhilfelehrern teilnahmen. Die Unsichtbarkeit durch den Ring des Gyges ist mit der Entfernung zwischen Sendern (Lehrer, Prüfern) und Empfängern (Studenten, Schülern) einfach durchs Internet ersetzt worden, wobei man die toten Winkel der Kameras ausnutzte.

Das Beispiel der Jura-Studenten lässt uns wieder an die „Unkorrumpierbarkeit“ der rumänischen Justiz denken, umso mehr, als gegen die Exmatrikulation der Prüfungsschwindler – einschließlich aus den Reihen der Jura-Studenten – ziemlich laute Proteste zu hören waren (die allerdings in einer „schönen“ Tradition der Bukarester Rechtsfakultät stehen, die einem Victor Ponta für seine zu 70-75 Prozent abgekupferte Doktorarbeit den moralisch zwar stark abgewerteten, aber immerhin noch honorigen sowie finanziell und karrieremäßig förderlichen Titel einbrachte.

All das sind Gründe, weswegen sich niemand wundert, wenn er beim Dokumentieren über den Ex-Innenminister Ion Marcel Vela Titel wie „Betriebsingenieur“ der kleinen und durch und durch durch Korruption kompromittierten Reschitzaer Hochschule UEM findet, oder „Jura-Absolvent“ der Lugoscher „I.C.Drăgan“-Hochschule (wo sich ein Hochschullehrer mit einem geräucherten Schweineschinken bestechen ließ). Die Restriktionen durch die Pandemie und die Verlegensheitslösungen des Unterrichtssystems als Antwort darauf haben den Ring des Gyges aktiviert. Er wird jetzt mit dem Stein nach Außen getragen, in der Hoffnung, dass die Macht der Unsichtbarkeit vor dem Erwischen beim intellektuellen Klauen schützt.

Fragt sich nur, was uns die „Fachleute“ bescheren werden, die auf diese Weise auf den „Markt“ kommen, denn niemand darf so naiv sein, zu glauben, dass es in der Medizin, im Ingenieurwesen, in der Lehrerbildung, in der Ausbildung von Wirtschaftsfachleuten usw. anders zugeht als in der Ausbildung der künftigen Richter, Staats- und Rechtsanwälte. Ein niederschmetterndes Bild drängt sich einem auf.

Vor Jahren hieß es, Diogenes, der Kyniker, sei durch die Straßen einer rumänischen Stadt geirrt, um sein Funzellicht wiederzufinden, das ihm gestohlen worden war. Sähe ihn heute jemand in Rumänien, suchte Diogenes mit seinem Funzellicht wohl jene Studenten, die trotz Versuchungen durch die „Unsichtbarkeit“ einfach sich weiter bilden.