Soldaten im Paradeschritt stolzieren in Bukarest an Volk und Ehrentribüne vorbei. Militärtechnik wird unter, neben und über dem Triumphbogen vorgeführt. Fahnen werden geschwungen. Ähnliche Paraden in Karlsburg/Alba Iulia und in Jassy/Iași. Das ganze Land flattert in Rot-Gelb-Blau im Wind. Es werden von patriotischen Floskeln und Parolen triefende Reden geschwungen. Bohnengerichte, Schweinshaxen, Bratwurst und Mici werden als Symbol des Rumänentums kostenlos ans Volk verteilt. Es ist der 1. Dezember – Nationalfeiertag. Eine unter der Trikolore vereinte Nation feiert sich selber. Im Hinterkopf kann aber das „Quo vadis Rumänien?“ nicht wirklich unterdrückt werden.
Wer ist der „richtige“ Rumäne?
Durch das starke Auftreten nationalistischer Bewegungen im Wahljahr 2024, kam erneut die Frage nach dem „richtigen“ Rumänen in den Fokus – ein Thema, welches sich immer wieder in den Vordergrund drängt. Die Bilder und Vorstellungen klaffen auseinander. Es stehen sich pro-europäisch und souveränistisch, „erwähltes Volk“ und „kleine Kultur“, wahre und verfälschte Geschichte, Patrioten und Volksverräter gegenüber. Dabei ist jeder in den eigenen Augen die Verkörperung des wahren Rumänen. Alle reden von der einen Nation und meinen dabei nur sich selbst und die eigene Gefolgschaft. Als Beistehender kann man sich zwischen dem Hü und Hott dieser Tage schwer ein Bild von der Einheit der Nation, die sich gerade feiert, machen. Es scheint, dass nur die Grenzen, zwischen denen man geboren wurde und lebt, sowie die gemeinsame Sprache die einzigen vereinenden Elemente der Gegenwart geblieben sind. Sonst scheint jeder zum Spürhund geworden zu sein: Der Feind, der sogar in den eigenen Reihen gewittert wird, muss ausgemerzt werden. Der Judas in den eigenen Reihen, der je nach Positionierung mit verräterischem Kuss den Feinden aus dem Westen oder denen aus dem Osten die Tore der jahrtausendealten Burg öffnen will, muss und soll vernichtet werden. Und wie weit ist man dabei vom Jahr 1918 und der Erklärung von Karlsburg, die den Grund für diesen Feiertag liefert, entfernt.
Der Text der damals vom griechisch-katholischen Bischof Iuliu Hossu verlesenen Erklärung schaffte es in seiner Knappheit, eine staatliche Zukunftsvision zu entwickeln. Die Basis dafür lieferte der Wunsch nach einem demokratisch fundierten Frieden, der sich auf die Gleichberechtigung jenseits von ethnischer, konfessioneller und sozialer Zugehörigkeit stützt. Das Bild des zukünftigen Staates wurde im damaligen gesamteuropäischen Kontext verankert und sollte ein Ausdruck friedlicher internationaler Beziehungen sein. Ohne pathetisch-nationalistische Wortwendungen wurden sowohl die gebrachten Opfer geehrt, als auch die erfahrene Unterstützung gewürdigt. Letztendlich besticht und überzeugt diese politische Erklärung bis heute durch ihren nüchternen und klaren Ton, was ihr eben die Würde verleiht, die einem derartigen Dokument innewohnen muss. Wie anders aber der Ton und das Gebaren der politischen Zeitgenossen – von denen wahrscheinlich die meisten den Text der Karlsburger Erklärung noch nie gelesen haben. Es dominiert der demagogische Diskurs, den zwielichtige Gestalten wie C˛lin Georgescu und George Simion zur Kür erhoben haben. Guru Georgescu rief von seiner Bühne in Karlsburg zum größten Kampf aller Zeiten auf: „Ich wende mich nun an euch, Rumänen im Inland und überall, und hoffe, dass unter dieser Resignation das heilige Feuer der Würde eurer Vorfahren in euch lodert, eine Kraft, die kein Opfer, kein Leid löschen kann.
Ich rufe euch heute zum größten Kampf aller Zeiten auf. Zum Kampf gegen die inneren Feinde, gegen die moralische Taubheit, die das Gewissen allmählich zerstört, gegen die Angst, die größer ist als die Freiheit, gegen das Warten auf einen externen Retter, das die erbärmlichste und perfideste Form der Sklaverei ist, gegen die kollektive Passivität“. Witzigerweise stehen sich dabei die beiden nationalistischen Fronten als Feinde gegenüber. Karlsburg erwies sich als zu klein für beide Lager. So stahl der wiedergewählte AUR-Vorsitzende George Simion den Start, indem er seinen Auftritt sechs Minuten früher als geplant begann, was Georgescu zwang, eine Viertelstunde später aufzutreten als vorgesehen. Bemerkenswert: Die Gendarmerie war bemüht dafür zu sorgen, dass sich die beiden Parteien nicht begegnen. Durch die parteiinterne Wahl in seiner Rolle als Retter der Nation bestätigt, erinnerte sich Simion an sein ihm bestimmtes bevorstehendes Heldentum: „Um unsere Gegner, das habe ich Ihnen bereits gesagt, wird sich das rumänische Volk kümmern. Sie sind die Vergangenheit, und wir sind die Zukunft. (...). Wir werden nicht das tun, was sie getan haben und tun – politische Unterdrückung –, und wir werden nicht mit ihren schmutzigen Waffen kämpfen. Wir müssen uns auf jede Gemeinschaft und auf die Stimme der Rumänen konzentrieren, die zu ihrem natürlichen Platz zurückkehren werden, sobald wir siegen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Wohlstand für alle Bürger dieses Landes zu erreichen.“ Von diesen patriotischen Gefühlen beflügelt, stellen die Anhänger der beiden Politiker ihre Landesliebe in Karlsburg unter Beweis: In die Klänge der Nationalhymne mischen sich ihre vaterlandsliebenden Buh-Rufe auf natürliche Weise.
Zeitgleich findet Präsident Nicușor Dan in Bukarest die Lösung für das Ei des Kolumbus: „Wo stehen wir heute? Wir müssen den Moment, in dem wir uns befinden, mit Ausgewogenheit und Klarheit betrachten. Wir leben schlechter als letztes Jahr, aber wir leben viel besser als vor 20 Jahren und als viele Menschen in unseren Nachbarländern. Rumänien ist ein korruptes Land, und die Rumänen haben Recht, wenn sie sagen, dass sie keinen Willen des rumänischen Staates sehen, die Korruption zu bekämpfen. Und wenn sie sehen, dass korrupte Menschen kommen und im Fernsehen Lektionen erteilen. Die ganze Korruption in dieser ganzen Zeit hat uns zurückgehalten. Wir könnten viel besser leben als heute. Es stimmt auch, dass wir in den letzten Monaten keine Korruption an der Spitze des rumänischen Staates gesehen haben.“
Bildung und Populismus
Wie immer sehen die meisten Analysten den Ursprung dieser vorhandenen nationalistisch-populistischen Tendenzen in der mangelnden Bildung des Volkes. Wer in den letzten 35 Jahren auch nur en passant die Entwicklung des rumänischen Bildungswesen verfolgt hat, kann den Begriff „Reform“ nicht mehr hören. Fast jeder der amtierenden Bildungsminister hat das System auf eigene Weise verschlimmbessert. Zur Zeit werden die Curricula der meisten in den rumänischen Schulen zu unterrichtenden Fächer erneut überarbeitet – auch das Fach Geschichte Rumäniens. Leiter der dafür zuständigen Kommission ist niemand anders als der Historiker Ioan-Aurel Pop, Vorsitzender der Rumänischen Akademie der Wissenschaften.
Dank ihm wissen wir nun, dass es einen „übertreibenden Nationalismus“ gibt: „Wir verurteilen niemanden, dieser Geschichtslehrplan richtet sich gegen niemanden. Wir haben uns sehr bemüht, nationalistische Akzente im Sinne von übertriebenem Nationalismus zu vermeiden. Ich sage das, weil viele Menschen heute, wenn sie das Wort Nationalismus hören, an Fremdenfeindlichkeit und Chauvinismus denken, was etwas ganz anderes ist.“ Überraschen dürften derartige Aussagen des Historikers nicht, da seine nationalistischen Haltungen und Äußerungen längst keine Rara Avis sind.
Nicht weniger problematisch scheint sich der Lehrplan für das Fach Rumänisch zu entwickeln. Der vorgelegte Entwurf für die neunte Klasse scheint auf jeden Fall nicht aus diesem Jahrhundert zu stammen und ignoriert komplett die Denk-und Lebensweise der heutigen Jugend. In chronologischer Abfolge sollen sich die Neuntklässler mit der Literatur des 17., 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigen. Einen Bezug zur Gegenwart und zu der sie umgebenden Wirklichkeit werden die Schüler nicht erleben. Wozu auch? „Der Kern der Frage nach dem Lehrplan liegt in der Frage, was wir damit erreichen wollen. Und ich glaube, dass es nicht darauf ankommt, eine kleine Anzahl von Schülern mit einer diachronen Darstellung der rumänischen Literatur hervorzubringen, sondern eine große Anzahl von Schülern, die gerne lesen. Und die Liebe zur Literatur lässt sich am effektivsten mit zeitgenössischen Schriftstellern vermitteln. Das ist alles. Was die alte Literatur angeht – jeder, der Literatur liebt, wird überall nach ihrer Schönheit suchen. Sowohl bei den Alten als auch bei den Neuen. Sowohl in der eigenen Kultur als auch in anderen Kulturen. Die einzige Voraussetzung ist, dass man es schafft, ihn für Literatur zu begeistern. Und das lässt sich mit zeitgenössischen Schriftstellern definitiv effizienter erreichen. Ich habe es in Dutzenden von Schulen im Land gesehen: Die Schüler reagieren einfach magnetisch, wenn sie verstehen, dass Literatur auch von ihnen und ihrer Welt handeln kann. Es gibt keinen Wettbewerb zwischen zeitgenössischen und klassischen Autoren um die Präsenz in den Lehrbüchern: Die Ersteren wirken zugunsten der Letzteren. Wer sich in die Literatur von Cărtărescu verliebt hat, wird unweigerlich auch die Klassiker entdecken, die in seiner Literatur wiederaufleben. Und er wird lernen, auch sie zu lieben. Aber es ist unendlich viel effektiver, die Neuntklässler von Cărtărescu zu Arghezi und Dosoftei zu führen – umgekehrt ist es wesentlich schwieriger und wird nur bei wenigen funktionieren. Ich möchte einen Lehrplan, der Massen von Lesern hervorbringt. Der das Selbstbewusstsein des Rumänien von morgen repräsentiert. Und das kann nur erreicht werden, wenn wir die Schüler der neunten Klasse für die Literatur gewinnen“, fasst der Schriftsteller Radu Vancu in einem Posting die Problematik treffend zusammen.
Am Ende des Nationalfeiertags bleibt – jenseits des bitteren Beigeschmacks – die Frage: Wer wollen wir als Nation sein? Natürlich betrachten viele sogar den Begriff der Nation als überholt. Aber die Frage bleibt. Die Geschichte zeigt: Gute Ansätze gab es immer wieder, einer davon war die Erklärung von Karlsburg vom 1. Dezember 1918. Doch wie wir wissen, haben diese selten den Sprung vom Papier in die Wirklichkeit geschafft. Auch die Erklärung von Karlsburg nicht.
Artikel 3 der Erklärung von Karlsburg
„In diesem Zusammenhang verkündet die Nationalversammlung als Grundprinzipien für die Gründung des neuen rumänischen Staates Folgendes:
1. Volle nationale Freiheit für alle zusammenlebenden Völker. Jedes Volk wird in seiner eigenen Sprache durch Personen aus seinen Reihen unterrichtet, verwaltet und gerichtet, und jedes Volk erhält das Recht auf Vertretung in den gesetzgebenden Körperschaften und in der Regierung des Landes im Verhältnis zur Anzahl der Personen, aus denen es besteht.
2. Gleiche Rechte und volle konfessionelle Autonomie für alle Konfessionen im Staat.
3. Vollständige Verwirklichung eines rein demokratischen Regimes in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Allgemeines, direktes, gleiches, geheimes, kommunales, proportionales Wahlrecht für beide Geschlechter ab 21 Jahren zur Vertretung in Gemeinden, Landkreisen oder im Parlament.
4. Vollständige Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, freie Propaganda aller menschlichen Gedanken.“






