Wie gehen wir mit der „gewonnenen Zeit“ um? 

Vortrag von Bischof em. Prof. Dr. Martin Hein, Mitglied des Rates für Digitalethik der Hessischen Landesregierung,   zur Künstlichen Intelligenz

Bischof a.D. Prof. Dr. Martin Hein – Es liegt in unserer Verantwortung als Menschheit wie wir mit der KI umgehen. Foto: Roger Pârvu

Digitalisierung, digitale Kompetenzen, Künstliche Intelligenz, digitale Ethik: alles Begriffe, die inzwischen Teil des menschlichen Daseins geworden sind. Die rasanten Entwicklungen im digitalen Bereich machen es dem Otto-Normalverbraucher schwer schrittzuhalten, andererseits bringen diese neuen Wirklichkeiten Herausforderungen in den unterschiedlichsten Bereichen wie Bildung, Ethik, Wirtschaft, Politik usw. mit sich, denen man sich stellen sollte, will man weiterhin als mündiges Mitglied der Gesellschaft eine Stimme haben. 

Am 8. November 2023 lud der Studiengang für Protestantische Theologie an der Lucian-Blaga-Universität in Hermannstadt/Sibiu zu einem Vortrag mit dem Titel: „Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Werden wir Menschen überflüssig?“ ein. Der Referent, Bischof em. der Evangelischen Kirche von Kurhessen Waldeck, Prof. Dr. Martin Hein, hatte sich bereit erklärt, sich während seines Rumänien-Aufenthalts zu dem aktuellen Thema der Künstlichen Intelligenz zu äußern. Mit der Problematik der Digitalisierung und den einhergehenden Herausforderungen beschäftigt sich Dr. Hein schon seit Längerem, aber direkt damit konfrontiert war und ist er besonders in seiner Funktion als Mitglied des Deutschen Ethikrates (2014-2018) und als Mitglied des Rates für Digitalethik der Hessischen Landesregierung (seit 2018). 

Schon einleitend bemerkte der Referent, dass die Digitalisierung mit dem Erfinden des Buchdrucks, der Dampfmaschine und der Elektrizität zu vergleichen ist. Diese für die Menschheit entscheidenden Schritte nannte er Quantensprünge. So führte der Buchdruck zu einer noch nie dagewesenen Alphabetisierung, die Erfindung der Dampfmaschine läutete das Zeitalter der Mechanik ein, dessen entscheidende Folgen die unglaubliche Steigerung der Produktion und der Mobilität waren, wobei der Einsatz der Elektrizität den Zugang zur Energie mit sich brachte, da diese nicht mehr dort hergestellt werden musste, wo sie zum Einsatz kam. Was aber allen gemeinsam sei, bemerkte Dr. Hein, sei das Ziel, Zeit zu gewinnen, so z.B. mussten Bücher nicht mehr von Hand abgeschrieben werden, sondern konnten durch den Buchdruck in großen Auflagen schnell gedruckt und vertrieben werden. 
Das gleiche gelte auch für die Digitalisierung, denn nun könnten mittels Quantencomputer unglaublich schwere Operationen in kürzester Zeit durchgeführt werden: „Die Komplexität behindert die Zeitmäßigkeit nicht mehr“, erklärte der Vortragende. Betrachte man die Digitalisierung als technische Innovation, müsse man bemerken, dass der Kostenfaktor noch eine entscheidende Rolle spiele, denn der Aufbau der notwendigen Infrastruktur verlange die Bereitstellung wichtiger Ressourcen einerseits, wobei deren ungleiche Verbreitung zu einem „digitalen Klassensystem“ führe. Andererseits ist hier die Transformation des Arbeitsmarktes anzumerken, welche zwar schon im Gange war, doch durch die Corona-Pandemie beschleunigt wurde, was auch in absehbarer Zukunft zum Beispiel eine viel größere Flexibilität seitens der Arbeitnehmer mit sich bringen werde. 
Weiterhin hat die Digitalisierung eine Revolution im menschlichen Kommunikationsverhalten verursacht. Man kann sagen, dass „Information und Kommunikation auf dem freien Markt angekommen sind.“ Als negativ sei die miteinhergehende Steigerung des Empörungspotenzials zu vermerken, was letztendlich zu gesellschaftlich-politischen Folgen führen würde. 
Im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI oder AI) seien zwei wichtige Faktoren zu beachten: diese ist nicht und darf nicht autonom und autark sein. Zum Beispiel in der robotisierten Unterstützung von Senioren sollten, um ihrer Zweckbestimmung gerecht zu werden, die eingesetzten Roboter zwar hochkomplex und hochautomatisiert sein, aber nicht selber entscheiden können, ob sie ihre Aufgaben erfüllen. Also soll und kann die Robotik in manchen Aspekten den Menschen ersetzen, aber dieses nicht gänzlich, wobei das gleiche Prinzip auch für die KI gelte. 
Und hier erscheint, laut Dr. Hein, die entscheidende Frage: Wie wollen wir als Menschen in der digitalen Welt leben? Führt die Digitalisierung in eine „entmenschlichte“ Welt, in der wir die Prozesse nicht mehr selbst bestimmen können? In der Analyse dieser Fragestellung, die der Vortragende verneinte, kämen zwei für den Menschen entscheidende Aspekte zum tragen: die Leibhaftigkeit und die Verantwortung. 

In seiner Begründung griff der Referent auf das paulinische Konzept zurück, welches besagt, dass wir nicht nur einen Leib haben, sondern Leib sind. Zugleich sei eines der wichtigsten Erkenntnisse der Isolation während der Pandemie die Tatsache, dass zwischenmenschliche Beziehungen von der Leibhaftigkeit leben, zwar kann man auch digital kommunizieren, aber in der direkten zwischenpersönlichen Kommunikation spielen einerseits alle menschlichen Sinne sowie der Faktor Zeit die entscheidende Rolle. Da die Leibhaftigkeit unser Wesen bestimmt, kann daher die Digitalisierung „die Notwendigkeit der leibhaftigen Begegnung nicht aufheben.“ Hier muss aber auch überlegt werden, wie man mit der durch die Digitalisierung gewonnenen Zeit umgeht: Wird unser Dasein dadurch hektischer oder entzerrter? Die Art, wie wir mit der „gewonnenen Zeit“ umgehen, führt zur Frage der Verantwortung, denn die Verantwortung für unsere Zukunft und die der folgenden Generationen bleibt weiterhin bei uns als Menschen. Dafür müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, welche die menschliche Selbstbestimmung sichern, ohne aber die Entwicklungsprozesse zu hemmen. Dafür ist eine angepasste Bildung notwendig, welche auf das Erlernen, Einüben und Einbringen von Humanität baut.

„Das Generalisieren ist die größte Kunst der KI“ bemerkte Dr. Martin Hein, „entscheidend bleibe für den Menschen das situative Handeln in der leibhaftigen Begegnung“. Auch wenn wir als Menschen Prozesse, die wir selber angestoßen haben, nicht mehr nachverfolgen können (wie im Falle des Deep Learning der KI), bleibt die entscheidende Frage, die uns als Menschheit bestimmen wird, wie wir mit den auf diese Weise erhaltenen Ergebnissen umgehen werden.