WORT ZUM SONNTAG: Die „Böse-Zunge-Epidemie“

Wenn der Hausarzt herausfinden will, ob ein Klient krank ist, muss dieser die Zunge zeigen. An der Farbe der Zunge kann er seine Rückschlüsse ziehen. Ob ein Mensch sittlich gut oder böse ist, verrät vor allem der Gebrauch der Zunge. Bei einer „bösen Zunge“ wird offenbar, dass im Herzen des Menschen etwas nicht in Ordnung ist. Viele Menschen leiden an der Epidemie der „bösen Zunge“, aber weil das ihnen selbst keine Schmerzen verursacht, merken sie es nicht. Die „Böse-Zunge-Epidemie“ ergreift die Menschen aller Kontinente und sie grassiert beständig durch alle Jahrhunderte. Das erkannte schon vor Jahrhunderten ein Schlossermeister aus Zürich. An seinem Haus ließ er folgenden Spruch anbringen: „Wenn an jedes böse Maul ein Schloss gehängt müsst werden, dann wär’ die edle Schlosserei die erste Zunft auf Erden!“Wollen wir von der „Böse-Zunge-Epidemie“ geheilt werden oder noch besser, davor bewahrt bleiben, müssen wir unser „Mundwerk“ im Zaume halten. 

Der Dichter Clemens Brentano (1778-1842) hatte in seinen jungen Jahren eine scharfe Zunge, die gern die Fehler und Schwächen anderer Leute bloßlegte. Einmal, als er bei dem alten Medizinalrat Windischmann zu Gast war, ließ er seiner satirischen Anlage wieder freien Lauf. Da sagte Windischmann: „So, jetzt meine ich, haben wir dem Nächsten genug Böses angehängt!“ Brentano war tief betroffen. Wortlos verließ er den Tisch, und als man ihn suchte, fand man ihn bedrückt auf dem Boden des Bücherzimmers sitzen. Man lud ihn freundlich ein, doch wieder zu Tisch zu kommen. Er aber sagte: „Nein, da krabbeln meine Sünden auf dem Tischtuch herum!“

Um die „Böse-Zunge-Epidemie“ zu heilen, sind keine Impfungen wie bei der Viren-Pandemie nötig, sondern Einsicht und guter Wille. Diese Impfstoffe können wir alle selbst bereiten und haben keine Arzneifabriken nötig. Wie entstehen „böse Gerüchte“? Einen Punkt behalten die meisten Menschen fest im Auge: Das ist der „dunkle Punkt“ im Leben des Nächsten. Hier beginnt die „Böse-Zunge-Epidemie“. Wie kann sich diese Epidemie schnell verbreiten? Ein weiser Mann erklärt es: „Vor allem Wachsenden auf Erden, wächst nichts so schnell wie das Gerücht. Und dennoch ist es ein armer Findling, der seine eigenen Eltern nicht kennt“. Lassen wir böse Gerüchte nicht in unser Herz hinein und, wenn sie schon drinnen sind, sperren wir sie in Quarantäne.

Der Berliner Arzt Ch.W. Hufeland (1762-1836), der Goethe und Schiller behandelt hat, erklärte: „Manchmal husten Leute, weil ihnen etwas Unrechtes in die Kehle gekommen ist. Müssten sie aber auch husten, wenn ihnen etwas ‘Unrechtes aus der Kehle kommt’, so wäre des Keuchens kein Ende!“ Viele Politiker, Skandalreporter, Gerüchtemacher, Schwätzer, Tunichtgute, Klatschbasen und andere Nachbeter würden daran erkranken.

Das Markusevangelium berichtet uns, dass Christus einen Taubstummen geheilt hat. Bevor er die Heilung vollbrachte, seufzte er, dann sprach er das Wort: „Effata – öffne dich!“ Der Mann konnte von nun an reden und hören. Warum wohl hat Christus geseufzt? Bisher war dieser Mann gegen die „Böse-Zunge-Epidemie“ immun. Nun hatte er die Möglichkeit, Zunge und Ohr sowohl zum Guten zu gebrauchen als auch zum Bösen zu missbrauchen. Heute wäre es notwendig, das Christus die Zunge von den meisten „redenden Menschen“ heilt, damit sie bei allen Gesprächen „richtig reden“. 

Wie können wir uns gegen die „Böse-Zunge-Epidemie“ bewahren? In Gefahr sind wir immer. Das hat schon der römische Denker Cicero erkannt. Er mahnte seine Zeitgenossen: „Die meisten Menschen werden in ihren Urteilen bestimmt durch Liebe oder Hass, Neigung oder Abneigung, Hoffnung oder Furcht. Die wenigsten Menschen urteilen nach der Wahrheit!“ Das hat auch für unsere Zeit Geltung. Der Denker Sokrates (470-399 v. Chr.) gibt uns einen praktischen Rat: „Man muss jedes Wort durch drei Siebe sieben! Das erste Sieb ist die Wahrheit, das zweite Sieb ist die Güte, das dritte Sieb die Notwendigkeit, es weiterzugeben!“ Würden wir beim Reden über andere Leute jedes Wort durch das Sieb der Wahrheit,der Güte und der Notwendigkeit gehen lassen, so würde viel Böses nicht geschehen und wir wären gegen die „Böse-Zunge-Epidemie“ immun.