Wort zum Sonntag: Die Heilsbahn

Oft stehen wir an einer Haltestelle und warten auf die Straßenbahn. Mit unserer ganzen Körperhaltung sind wir der Richtung zugewandt, aus der wir sie erwarten. Oft ist es ein langes Warten. Erscheint endlich eine Straßenbahn, dann ist es noch nicht sicher, ob es auch die richtige ist. Erst wenn sie nahe genug ist, vergewissern wir uns, ob es die ist, die in die von uns gewünschte Richtung fährt. Ist das nicht der Fall, lassen wir sie vorbeifahren. Wir warten so lange, bis das von uns erwartete Vehikel erscheint. An jedem Tag, an dem wir öffentliche Verkehrsmittel benützen, erleben wir Adventsminuten. Advent heißt warten! Unser ganzes Leben, ja die ganze Menschheitsgeschichte, ist eine Wartezeit. Seit sich die Tore des Paradieses hinter den Stammeltern schlossen, sind wir Menschen in Erwartung. Wir warten auf das verlorene Paradies, das heißt, auf eine „heile Welt“. Wer soll sie herbeischaffen? Etwa ein Politiker? Vor der Wahl versprechen sie uns das Blaue vom Himmel. Sind sie aber an der Macht, erleben wir nur noch „blaue Wunder“. Eines muss uns klar sein: Menschen, die genauso fehlerhaft, so habgierig, so sündig, so irrtumsfähig, so unheilig, so dem Tode verfallen sind wie wir, können uns keine heile Welt herbeizaubern, auch wenn wir noch so sehnsuchtsvoll darauf warten.

Das haben schon die Menschen im Altertum erkannt. In einem alten chinesischen Werk „Die unveränderliche Mitte“ wird von dem berühmten Weisen Konfutse, der etwa 500 Jahre vor Christus gelebt hat, folgendes Gespräch berichtet: Ein Minister des Reiches der Mitte sprach zu ihm: „Meister, du bist doch ein heiliger Mann!“ Er antwortete: „Soviel ich mich auch besinne, mein Gedächtnis erinnert sich an keinen, der dieses Namens würdig wäre.“ Der Minister nannte ihm drei berühmte Könige, fünf „Großherren“ und drei „Erlauchte“ aus der Geschichte des Landes. Der Weise erkannte ihre Verdienste an, fügte aber hinzu: „Ob es Heilige sind, wage ich nicht zu sagen.“ Da sprach der Minister voll Staunen: „Wenn das so ist, wen gibt es dann, den man heilig nennen darf?“ Konfutse sagte: „Ich hörte sagen, dass in den Gegenden gen Westen ein heiliger Mann aufstehen wird, der ohne Zwang und Gewalt die Wirren beschwichtigen, der ohne Überredungskünste einen freiwilligen Glauben an sich erwecken und ohne Druck und Gewalttat einen Ozean von verdienstlichen Handlungen bei den Menschen hervorbringen wird. Kein Mensch kann seinen Namen nennen, aber ich hörte sagen, dass er der wahre Heilige sein wird.“ Auch im alten Griechenland sehnten sich die Menschen, die sich in ihren Hoffnungen, die sie auf Könige und Philosophen gesetzt hatten, getäuscht sahen, nach einem Heilbringer, den nicht die vier Winde herbei wehen können, sondern der vom Himmel oben herabkommen muss. Nur ein Heiliger kann eine heile Welt schaffen. Der junge Alkibiades fragte seinen Lehrer Sokrates, wie man die Gottheit verehren solle. Der Weise sagte: „Das kann nur die Gottheit selber sagen. Sie allein kann uns lehren, was ihr wohlgefällig ist. Wir müssen warten, bis das höchste Wesen selbst uns einen Weisen von Himmel schickt, damit dieser uns sage, wie Gott verehrt werden soll!“ „Oh, dass er käme, während ich noch lebe!“, rief Alkibiades aus. Welch ein großartiger Adventsruf aus dem Munde des Heidentums!

Den sehnsuchtsvollsten Adventsruf im Namen der Menschheit hat der Prophet Jesajas in die Worte gefasst: „Tauet, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, regnet den Gerechten! Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor!“ Dieser Adventsruf bleibt aktuell, solange unsere „unheilvolle Welt“ bestehen wird. Mit Christus ist die Heilszeit für die unheile Welt angebrochen und die Heilstaten, die durch Ihn geschahen, sind die sichtbaren Zeichen dafür.

Er brachte uns die Heilsbahn, die durch alle Jahrhunderte fährt und die wartenden Menschen zum Einsteigen einlädt. Sie fährt auch in die Haltestelle unseres Lebens ein. Was erwarten wir von Ihm? Würde Er uns nur in eine sinnlich-materielle Welt führen, so bliebe sie trotzdem eine unheilschwangere Welt. Was hätten wir im Endeffekt davon? Ein kurzes Leben in Saus und Braus und nachher – o Graus – ein finsteres Grab. Wäre dies das ersehnte Heil? Wahr ist der Ausspruch Nietzsches: „Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ Überfluss an materiellen Gütern gereicht uns eher zum Unheil als zum Heil. Das unterstreicht der hl. Augustinus: „Wäre nicht der Menschensohn gekommen, so wäre der Mensch verkommen!“ Steigen wir vertrauensvoll in die Heilsbahn Christi ein. Die Reise wird nicht die bequemste sein. Wichtiger als der Weg ist das Ziel. Die Heilsbahn Christi führt uns in Gottes ewige „heile Welt“!