WORT ZUM SONNTAG: Die Zeit der Gnade

„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade! Siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“    
 2 Korinther 6,2b

Es ist November, die Natur verabschiedet sich aus ihrem sommerlichen und herbstlichen Glanz, die Tage werden grau, es wird früh dunkel. Das Kirchenjahr neigt sich ebenfalls dem Ende zu. Uns stehen die Tage des Gedenkens, der Buße und der Trauer bevor.

Die Lieder, die wir singen, und die biblischen Texte, die wir bedenken, berichten davon, dass wir Menschen begrenzte Wesen sind, dass wir mit der uns geschenkten Zeit und mit den uns zeitlich auferlegten Grenzen leben müssen. In diesen Tagen sind unsere Gedanken oft wehmutsvoll, vielleicht auch resignativ. Vielleicht denken wir auch an verpasste Chancen unseres Lebens; an Fragen, auf die wir keine Antwort gefunden haben; an Enttäuschungen über Menschen wie über Gott. Vielleicht denken wir auch an betrogene Hoffnungen in Familie, Beruf und Freundschaft, wo aufkeimende Hoffnung bald durch bittere Realität erstickt wurde.

In diese Zeit und in diese Seelenstimmung hinein hören wir die Worte des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth:
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade! Siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ Paulus spricht uns allen zu, dass die großen Verheißungen des alten Bundes jetzt und hier erfüllt sind. „Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Ihr müsst es nicht mehr herbeisehnen, ihr müsst nicht mehr warten. In Christus ist es erfüllt. Es ist da. Ihr seid keine Wartenden mehr, ihr seid erlöst!“ Nicht mehr warten, sondern mit Christus in der Gegenwart leben. Im Jetzt und Hier. Das ist auch für uns keine leichte Aufgabe, denn nichts ist flüchtiger als der gegenwärtige Augenblick. Das Heute, das Hier und Jetzt, ist doch nur ein winziges Zeitfenster im Angesicht der Vergangenheit und der Zukunft. Die Versuchung ist groß, sich entweder der Vergangenheit oder der Zukunft ganz hinzugeben und dabei die Gegenwart aus dem Blick zu verlieren.

„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade! Siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ Ein starker Appell für das Hier und Heute. Lebt nicht in der Vergangenheit, lasst euch nicht von ihr fesseln. Wir kennen sie alle, die Schatten der Vergangenheit. Was wir erlebt haben, was uns geprägt hat, lässt uns so schnell nicht los. Wenn das, was lange schon hinter uns liegt, immer noch nach uns greift, dann kann sich das lähmend auf unsere Gegenwart auswirken.

Es gibt viele Menschen, die Erlebnisse mit sich herumtragen, die wie ein Raubtier im Dunkeln nur darauf lauern, ihre Beute anzuspringen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Da kann ein Geruch, eine Geste, ein Wort eine Erinnerung auslösen, die starke Emotionen weckt. Das kann Schuld sein, ein schlechtes Gewissen oder auch eine Verlassenheitserfahrung.

„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade! Siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ sagt Paulus. Und damit sagt er auch: was war, ist vergeben. Du, Mensch, kannst deine Last vor Gott bringen und vor ihm ablegen. Er vergilt uns nicht nach unserer Missetat. Ein neuer Anfang ist möglich. Gott heilt die Wunden der Vergangenheit. Siehe, ich mache alles neu! Das ist ein Mut machendes Wort für alle, die sich nicht freuen können, weil die Schrecken der Vergangenheit sie noch belasten. Aber auch ein Wort für die ewig Gestrigen, für jene, die stets nach hinten schauen und jammern und klagen: „Früher war alles besser! Früher, war das Leben schöner!“

„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade! Siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ Das heißt: Heute, hier und jetzt kannst du Gottes Spuren in deinem Leben und in der Welt erkennen und darfst dich darüber freuen. Das Reich Gottes ist mitten unter uns. Es ist da. Wir müssen uns vielleicht bücken, um es wahrzunehmen oder in verborgene Winkel schauen. Aber es ist da. Es steht quasi vor der Tür und klopft an, und es liegt an uns, ob wir ihm die Tür unseres Herzens öffnen. Wenn ich mich von Gott berühren lasse, hier und jetzt, dann strahlt das aus. Dann verändert das mein Leben und die Welt um mich herum.

„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade! Siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ Morgen kann es zu spät sein. Das Gleichnis von den zehn klugen und den zehn törichten Jungfrauen erzählt davon. Die törichten sind nicht bereit, als der Bräutigam kommt. Sie verpassen die einmalige Chance. Die Gnade, das Heil, geht an ihnen vorüber und sie lassen es ziehen.

Der zweite Korintherbrief wird auch der Tränenbrief des Paulus genannt, weil er ihn aus dem Gefängnis schreibt. Er schreibt unter Tränen und Qualen von der großen Liebe Gottes und von der Kraft und dem Mut, die Gottes Liebe ihm verleihen. „In Ängsten – und siehe wir leben!“ Unter welchen Umständen auch immer – Gottes Gnade ist eine Quelle der Kraft. Aus ihr schöpfen wir Hoffnung und Zuversicht für diese Welt. Auch im November 2012. Mögen wir glaubwürdige Zeugen der Gnade Gottes sein. Menschen, die von der Hoffnung erzählen, die in ihnen steckt.