WORT ZUM SONNTAG: Rede, und schweige nicht!

Morgens steht sie auf und weiß nicht, wo sie anfangen soll. Sie geht ins Bad und schaut in den Spiegel. Ein müdes Gesicht, fremd wirkend, schaut sie an. Sie trinkt ihren Tee, Kaffee mag sie nicht. Im Treppenhaus trifft sie einen Nachbarn. Er grüßt, sie nickt. Sie eilt zur Bushaltestelle. Im Bus das übliche Gedränge. Jemand stößt sie gegen das Bein. Sie verzieht den Mund, versucht, nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Sie steigt aus. Die Bettlerin sitzt wieder da, ihr krankes Bein ruht auf einem schmutzigen Stück Stoff. Im Büro angekommen, legt sie den Mantel ab und setzt sich an ihren Schreibtisch. Ihr Chef winkt sie zu sich. Sie habe sich schon wieder verspätet. „Es tut mir leid“, sagt sie. Sie setzt sich wieder an ihren Tisch und fängt an, E-Mails zu beantworten, Routine halt. Sie telefoniert viel.

In der Mittagspause kauft sie ein Brötchen und geht in Richtung Park. Zwei Kolleginnen holen sie ein und fragen, ob sie mitgehen könnten. „Sicher“ erwidert sie. Sie setzen sich auf eine Bank und kauen an ihren Brötchen. Es wird ein bisschen über die Kollegen gelästert, über die neue Verordnung der Regierung geschimpft, das Land geht vor die Hunde. Wen kümmert´s? Besser wird’s eh nicht. Es wird Zeit, zurück ins Büro zu gehen. In der Nähe des Zebrastreifens haben die Zeugen Jehovas einen Stand aufgebaut, verteilen Broschüren und bieten Gespräche an. Zwei junge Frauen stehen da. Mit freundlicher Miene blicken sie die Passanten an. Kaum jemand bleibt stehen. Eine ihrer Kolleginnen macht eine Bemerkung über die Länge der Kleider der beiden Frauen. Die andere kichert.

Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch blickt sie verstohlen zu seinem Schreibtisch. Er ist noch nicht aus der Mittagspause gekommen. Gestern hat er sie ertappt, wie sie ihn ansah. Er hat gelächelt. Ihr Handy klingelt. Ihre Mutter. Wahrscheinlich wegen des Arztbesuches morgen. Sie antwortet nicht. Sie wird sie später anrufen müssen, vielleicht morgen früh. Die Zeit kriecht dahin. Es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Ein paar Kollegen gehen auf ein Bier. Ob sie mitgehen möchte? Sie lächelt, nein, sie habe andere Pläne. Vielleicht am Wochenende? Mal sehn. Sie beschließt, zu Fuß nach Hause zu gehen, so hat sie Zeit zum Nachdenken. Brot kaufen muss sie auch noch. Zu Hause isst sie noch etwas, liest ein paar Artikel im Internet und geht ins Bad. Dieselben Augen wie am Morgen blicken sie aus dem Spiegel an. Wie lange noch? Sie legt sich ins Bett, blickt zur Ikone auf, die über ihrem Bett hängt und murmelt das Gebet, das ihr die Großmutter beigebracht hat. Sie macht das Licht aus und schließt die Augen.


Fürchte dich nicht, sondern rede,
und schweige nicht!
                 Apostelgeschichte 18,9


Du hast mir weh getan.
Wie kann ich dir helfen?
Ich kann mehr als das.
Ich bin mehr wert.
Ich liebe dich.
Ich finde das unfair.
Mögt ihr mich wirklich oder
tut ihr nur so?
Ich habe Angst um dich.
Ich will etwas ändern!
Ich finde dich mutig.