Zerrieben zwischen Krisen?

Ukraine-Krieg, US-Wahlen, globale Konflikte: Europa bangt um seine Sicherheit

Symbolfoto: pixabay.com

Nie war die sicherheitspolitische Herausforderung größer als jetzt: russische Drohnenteile fallen auf rumänischen und lettischen Boden, NATO-Länder müssen die Bündnisgrenzen sichern. Auf der einen Seite müsste die Ukraine im russischen Angriffskrieg viel stärker unterstützt werden, Beschränkungen in Bezug auf die Nutzung westlicher Waffen dringend fallen. Auf der anderen gilt es zu vermeiden, zur Kriegspartei zu werden. Das Gleichgewicht ist denkbar fragil. Rote Linien wurden auf beiden Seiten überschritten. Doch eine besiegte Ukraine ist undenkbar, zu weitreichend wären die Konsequenzen für Europa. 

Selten wurde so deutlich Klartext gesprochen wie auf dem zweitägigen Seminar „Deutsche Europapolitik im Jahr der globalen Weichenstellungen“ der Europäischen Akademie Berlin (EAB) für Journalisten in Rumänien, auf dem renommierte Experten aus Deutschland und Rumänien zu den Themen Europa- und Sicherheitspolitik, Migration und Medien am 5. und 6. September im Bukarester Goethe-Institut ausführlich Rede und Antwort standen – dies vor dem Hintergrund des anhaltenden russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Die Veranstaltung fand unter der Chatham-House-Regel statt: weder die Redner, noch die Teilnehmer dürfen zitiert werden. 

Die gespannte Lage hat auch ein Gutes: Sie hat Rumänien und Deutschland näher als je zuvor zusammenrücken lassen, Rumänien habe sich als verlässlicher Partner bei der Bewältigung von Flüchtlingskrise, Getreidelieferungen, etc. „in die Herzen der deutschen Politiker gespielt“, sei bei Entscheidungsprozessen „immer ein Teil der Lösung“ und „ein leuchtendes Beispiel dafür, wie man es machen muss“, so der deutsche Botschafter Dr. Peer Gebauer einleitend. 

Wie geht es weiter mit der EU?

Ein neues EU-Parlament, eine neue EU-Kommission, ein Neubeginn nach den Wahlen. Wie sieht die EU der Zukunft aus: größer – aber auch stärker? Welche Reformen sind nötig? Den Impulsvortrag zu diesem Thema hält Catalina Cullas, Beauftragte des deutschen Auswärtigen Amtes für die Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten der EU, grenzüberschreitende und regionale Zusammenarbeit. Thematisiert wurden folgende Problempunkte:

Ein zunehmendes Unwohlsein verursacht die Präsenz von mehr EU-kritischen Kräften im Parlament, die die Entscheidungsfindung sicher erschweren werden. Doch habe die Erfahrung mit Italien gezeigt, dass allzu viel Angst vor Extremisten im EU-Parlament nicht immer begründet ist. Bei vielen Abgeordneten setzt ein Erkenntnisprozess ein, das Beispiel Italien habe gezeigt, dass eine konstruktive Zusammenarbeit möglich sei. Trotzdem müsse man sich darauf konzentrieren, dass EU-kritische Parteien nicht allzu viel Zulauf bekommen. 

In Sicherheit und Verteidigung muss massiv investiert werden und eine strategische Neuausrichtung für einen gemeinsamen Rüstungsmarkt ist mehr als dringend vonnöten. Auch im EU Defense Program ist eine Stärkung der Wehrhaftigkeit festgeschrieben. 

Das Außenhandeln der EU muss besser koordiniert werden, durch stärkere Kooperation zwischen den Diplomaten der Länder und der EU-Kommission. 

Die Rechtsstaatlichkeit der Mitglieder muss fortwährend geprüft werden: Es reicht nicht, nur beim Beitritt die Hürde zu nehmen.

Die EU-Erweiterung auf 35 Mitglieder muss intensiv vorangetrieben werden, das Thema hat durch den Ukraine-Krieg an Dynamik gewonnen. Gleichzeitig muss die EU fit gemacht werden, um handlungsfähiger zu sein. Entscheidungen müssten schneller getroffen werden und dürfen nicht durch das Veto von ein-zwei Ländern verzögert oder gar blockiert werden können. Künftig sollen daher mehr Mehrheitsentscheidungen zugelassen werden. Erweiterung und Reform der EU sind parallele Prozesse. 

Bei der Erweiterung werden einige Länder zwar als Gruppe behandelt – so spricht man etwa vom Trio Ukraine, Moldau und Georgien, doch qualifiziert sich letztendlich jedes Land einzeln. Bei Georgien seien derzeit eher Rückschritte zu beobachten. 

Die Regel, Territorialstreitigkeiten vor Beitritt beizulegen zu müssen, könnte möglicherweise aufgeweicht werden. Die Ukraine arbeite trotz des Kriegsgeschehens die Beitrittsregeln in bewundernswerter Weise ab.

Wer garantiert Europa Sicherheit?

Über die Positionierung Deutschlands und der EU zur Sicherheitspolitik im EU-Wahljahr, auch vor der Frage des unsicheren Ausgangs der Wahlen in den USA, diskutieren Erhard Bühler, Generalleutnant a. D. der Bundeswehr, und George Scutaru, Gründer und Leiter des New Strategy Centers, mit den Teilnehmern. Im Vordergrund steht die Vorbereitung der EU-Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund der verlängerten russischen Aggression in der Ukraine, wie die NATO gestärkt werden kann, aber auch der Umgang mit hybriden Bedrohungen.

Verglichen mit den letzten vier-fünf Jahrzehnten war die Lage noch nie so brisant: die Krisen sind mehrdimensional und global, innen- und außenpolitische Aspekte verschwimmen. Der Zusammenhalt innerhalb der NATO und der EU ist der politische Imperativ vor der gegebenen Lage. Jedes Abweichen davon schwächt das Bündnis!

Probleme: Die Streitkräfte wurden in fast allen NATO-Staaten in hohem Maße vernachlässigt. Beson-ders kleine Staaten haben viel zu wenig in Verteidigung investiert. Aber auch Großbritannien und Frankreich haben große Probleme mit ihren Armeen. 

EU und NATO treten nach außen häufig als Konkurrenten auf. Dies dürfe so nicht kommuniziert werden, denn tatsächlich ist die Aufgabenverteilung klar: Die NATO sichert die kollektive Verteidigung, die EU sorgt für das Krisenmanagement, für Unterstützung der Verteidigung durch ihre Industriepolitik und Kooperation auf militärischer Ebene, in Forschung und Entwicklung – wenn auch derzeit völlig unzureichend.

Die vieldiskutierte Idee einer EU-Armee ist eine nicht zu realisierende Illusion! Dafür müssten viel zu viele grundlegende Veränderungen in den EU-Verträgen vorgenommen werden. Auch die Diskussionen um einen nuklearen Schutzschild der EU müssten beendet werden: Nicht nur, dass der Zwei-plus-Vier-Vertrag der ehemaligen beiden deutschen Staaten und der vier Großmächte festlegt, dass auf deutschem Boden keine Kernwaffen stationiert werden. Der Aufbau einer nuklearen Verteidigung Europas würde Jahrzehnte dauern und diffizile praktische Fragen aufwerfen: nach der Befehlsgewalt oder der politischen Kontrolle auf EU-Ebene, der Lastenteilung, der Finanzierung. Leichtfertige Äußerungen von Politikern, die Kommandogewalt zwischen den Ländern kreisen zu lassen, seien nicht umsetzbar. Außerdem sind die Kernwaffen von Großbritannien und Frankreich weder von der Qualität noch von der Quantität her geeignet, die EU zu schützen! Sie können die nuklearen Fähigkeiten der USA nicht ersetzen, was Europa für viele, viele Jahre von den USA abhängig macht.

Der Verteidigungshaushalt der Länder muss in den nächsten Jahren entscheidend aufgestockt werden. Man spricht von einer Erhöhung der Kapazitäten um 30%. Die derzeitigen 2% BIP werden nicht ausreichen für die Finanzierung der Aufgaben, die von der NATO an die Länder (nach geltendem Kräfteschlüssel: 45% USA, 10% Deutschland, je 9% Großbritannien und Frankreich...) verteilt werden. Auch könne man z. B. einem Wähler in Texas schwer klarmachen, dass die USA für die Verteidigung Europas zuständig sein sollen, während den EU-Ländern der Wohlstand wichtiger ist und Länder an der Grenze zum Kriegsgeschehen weniger als 2% BIP investieren.

Die Ukraine darf nicht verlieren!

Wenn die Ukraine nicht rechtzeitig so unterstützt wird, dass sie den Krieg gewinnen  kann, bedeutet dies, dass Europa seine politische und militärische Macht verliert. Daher müssen sich die Unterstützerländer noch mehr und langfristig engagieren und auch weitreichende Waffen liefern – das A und O der Luftverteidigung. Alle Restriktionen für den Einsatz westlicher Waffen an die Ukraine müssen dringend aufgehoben und dies in den NATO-Ländern harmonisiert werden. 

Andererseits darf die NATO nicht zur Kriegspartei werden: Auf keinen Fall dürfe Ausbildungsunterstützung auf ukrainischem Gebiet erfolgen. Die Konsequenzen seien vielseitig, komplex und gefährlich, kein NATO-General würde diese – bisher auf rein politischer Ebene geäußerte – Idee unterstützen. Auch mit einer Ausdehnung der NATO-Luftverteidigung auf die Ukraine dürften keine Experimente gemacht werden. 

Die Sanktionen gegen Russland waren völlig nutzlos: Russland hat durch Öleinnahmen Geld für einen langfristigen Krieg und kauft oder produziert heute mehr Drohnen und Raketen als je zuvor. Diese oder die Elektronik dafür werden aus Drittländern beschafft und Chips aus heutzutage hochtechnisierten Haushaltsgeräten wie Waschmaschinen ausgebaut. In Kasachstan und Armenien habe sich laut Statistiken der Import von Haushaltsgeräten in der letzten Zeit verdreifacht... 

Die militärtechnische Unterstützung der NATO-Länder für die Ukraine reicht nicht aus und kommt zu zögerlich ans Ziel: Die EU hat der Ukraine für dieses Jahr die Lieferung von 1 Million Artilleriegeschossen versprochen – Nordkorea hat an Russland bereits 8 Millionen geliefert! Fatale Abhängigkeit: Rumänien produziert Artilleriegeschosse, aber das Pulver muss aus Serbien – ein Nicht-NATO-Land – importiert werden.

Was die Finanzhilfe für die Ukraine betrifft, geht Deutschland mit schlechtem Beispiel voran: die Hilfe wurde von 8 Milliarden Euro auf 4 Milliarden reduziert. Dies könnte für die USA und andere Länder ein Vorwand sein, die Hilfen ebenfalls zu reduzieren.

Am schlimmsten sind die Konsequenzen der  menschlichen Verluste aufgrund schleppender Waffenlieferungen: Alle drei Tage verliert die Ukraine rund 500 Soldaten – ein ganzes Battalion! Die versprochenen Rüstungsgüter (HIMARS, ATACMS, F-16) wurden mit großen Verzögerungen und in nicht annähernd ausreichender Zahl geliefert. Beispiel: Bis jetzt hat die Ukraine zehn F-16 Kampfflieger erhalten, weitere 20 wurden bis Ende des Jahres zugesagt. Um das Kriegsgeschehen zu beeinflussen, würden mindesten 150 benötigt!

Sämtliche Einnahmen der Ukraine, z. B. aus Getreideexporten, werden für Soldatenlöhne, Waffenkauf und die Produktion von eigenen Drohnen eingesetzt. Bewundernswert sind Kreativiät und ziviler Geist der Ukrainer: In nur zwei Jahren hat das Land ohne eigene Flotte ein Viertel der russischen Flotte mithilfe von Seedrohnen versenkt. In Sewastopol ist aus Angst vor ukrainischen Drohnen kein bedeutendes Schiff der russischen Flotte mehr stationiert, diese wurde nach Noworossijsk zurückgezogen. Russland traut sich derzeit im Schwarzen Meer weder die Handelswege noch die rumänische Zone wirtschaftlichen Interesses zu blockieren. Drohnen, die mit 1,5 Kilogramm Sprengstoff beladen werden können, werden teils von ukrainischen Studenten aus Bauteilen um15 USD in Kellern gebastelt.

Der ukrainische Angriff auf das russische Kursk allerdings sei ein Spiel mit dem Feuer. Rund 20.000 ukrainische Soldaten – fast alle Reservekräfte – seien dort beteiligt, doch die Strategie, Russland vom Donbass umzuorientieren, sei noch nicht aufgegangen. Wenn dies nicht bald gelingt, sind die Kräfte schnell erschöpft. 

Ein Frieden, der keiner wäre...

Manche Politiker drängen in ihrem Diskurs massiv auf „Frieden“. Doch wie sähe ein Frieden nach russischen Bedingungen aus? Russland hat sich bereits 20% der Ukraine einverleibt, vor allem an der Küste, und würde seinen Druck auf das Schwarze Meer erhöhen. Rumänien könnte wegen der Gasvorkommen mit Neptun Deep Europas größter Gaslieferant werden. Doch Artikel 5 der NATO (kollektive Verteidigung bei Angriff auf ein Mitglied) deckt nur Angriffe auf Staatsgebiet ab, nicht auf Schiffe in Zonen wirtschaftlichen Interesses im Schwarzen Meer. Schon jetzt stört Russland die GPS Signale in der Region, der kürzliche Untergang eines Schiffes bei Sulina sei Resultat der elektronischen Kriegsführung Russlands. 

Über kurz oder lang würde Russland Rumäniens Nachbarland. Der größte Albtraum Rumäniens wäre Russlands Zugang zum Donaueintritt. 

Die Ukraine hat ein Reservoir an gut ausgebildeten Kämpfern – im Falle einer Niederlage ein Vulkan an Instabilität! Würden sie nicht mehr bezahlt, könnten sie sich der Organisierten Kriminalität zuwenden.  

Wenn die Ukraine zerbricht, würde eine nie dagewesene Migrationswelle ausgelöst. Dann könnte es Putin auch ohne militärische Mittel gelingen, die EU zu zerstören.  

Putin, der den Krieg nicht als zwischen zwei Staaten, sondern als Bürgerkrieg betrachtet, obwohl Russland 1990 mehrfach die Unabhängigkeit der Ukraine vertraglich zugesichert hat, will den Konflikt noch zu Lebzeiten lösen. Eine Teilung der Ukraine könnte einen Krieg mit der EU verhindern, doch wenn keine klare Entmutigung geschieht, allenfalls um zwei-drei Jahre verzögern.

Fazit: Es gibt derzeit keine Chance auf Frieden. Die AfD und die Sahra-Wagenknecht-Partei in Deutschland instrumentalisieren nur die Sehnsucht der Menschen danach. Ehrliche Kommunikation  finde auch seitens des Kanzlers nicht statt. Es gibt keine Vorbereitung der Bevölkerung, keine Einrichtung ziviler Bunker, keine Szenarien für Luftangriffe. Ähnlich in Rumänien: zivile Übungen von Katastrophenschutzchef Raed Arafat wurden entmutigt, um keine Panik zu verursachen. Die Forderung von Generalstabschef Gheorghiță Vlad nach Gesetzesänderungen, die den Abschuss eindringender Drohnen erlaubt, wurde  nicht erfüllt.

Der Grund für den anhaltenden Krieg sei die Zögerlichkeit des Westens bei den Waffenlieferungen – „Frieden“ tritt  ein, wenn die Ukrainer keine Waffen mehr haben. Der nächste Schritt von Putin werde dann sein, uns zu demonstrieren, dass Artikel 5 der NATO nicht funktioniert. Was das Ende der NATO wäre.