Zugebissen: Verdächtig korrekt

Eine Szene in einem größeren Dorf nördlich von Bukarest: Ein Kleinbus hält in der Kurve. Mitten auf der Fahrbahn! Es ist reichlich Platz vor dem Baumaterialienladen, doch auf den Parkplatz fahren würde ja Aufwand bedeuten. Null Sicht, Sperrlinie, jeder Rumäne, der etwas auf sich hält, hätte jetzt entweder halsbrecherisch überholt oder ein Hupkonzert von sich gegeben. Ich warte statt dessen geduldig, bin ja fast schon zuhause – doch meine Geduld nervt offenbar andere. 

Einer der Bauarbeiter, der den Bus belädt, macht ironisch grinsend eine ausladende Geste in Richtung Straße. Ich deute kopfschüttelnd auf die Sperrlinie. Der Typ schlägt die Hände überm Kopf zusammen. Allzu oft donnern hier Lastwägen daher, die sogar gern mal auf die Gegenspur surfen, also bleibe ich stur. Jetzt werden auch die anderen Männer auf die Frau, die keine Straftat begehen will, aufmerksam. Sie stellen ihre Tätigkeit, die schnell beendet sein könnte, ein. Gaffen, lachen, staunen, fassen sich ans Hirn, deuten auffordernd auf die Fahrbahn und einer macht plötzlich eine Bewegung, die ich erst später mit „Übersetzungshilfe“ als obszön identifizieren kann. Diesem Druck ausgesetzt lege ich ein filmreifes Überholmanöver hin. Hinter mir lautes Gelächter. Der Vorgang ist mir peinlich – wieso eigentlich mir? Ich habe pure Abscheu ausgelöst, weil ich mich und andere nicht in Gefahr bringen wollte.

Fast dasselbe in Grün passiert gelegentlich morgens, aus der anderen Richtung kommend. Der Parkplatz vor dem Metzgerladen ist voll, lebhaftes Ein- und Ausmanövrieren, keine Ahnung, was das halbe Dorf um sechs Uhr morgens so dringend dort zu tun hat. So mancher hält mitten auf der Fahrbahn: Warnblinkanlage an, rein in den Laden. Die Fahrzeuge hinter mir hupen. Einmal werde ich, ratlos wartend (wie gesagt, null Sicht auf der Gegenseite!) sogar vom aussteigenden Besitzer des Hindernisses wüst beschimpft! Und denke, was für ein Fressen es wäre, wenn hinter der Kurve jetzt die Bullen stünden. Aber die stehen nicht an dieser Stelle, niemals, der Metzger hat wohl gute Beziehungen. Irgendwann lernt der Mensch dann seine Lektion: Überholen. In Rumänien sch… man auf Sperrlinien!

Gesetze sind da, um gebrochen zu werden, erfahre ich auf ähnliche Art und Weise immer wieder und wieder. Und so ist auch das neue Gesetz zum Verbot von Verbrennen von Gartenabfällen völlig für die Katz! Von wegen, die Feuerwehr anrufen, weil es in der Nachbarschaft schon wieder stinkt und raucht und man befürchten muss, dass die Vegetation Feuer fängt, wie schon einmal gehabt. Kurz vor der Katastrophe mussten sieben Feuerwehren anrücken. Doch der Wind bläst und die Rauchsäule steigt beängstigend hoch. Man greift zum Handy – und wird gewarnt, dass manche Menschen sich rächen, wenn sie herausfinden, wer sich da beschwert hat. Und, dass sie es herausfinden. Auf dem Dorf ist jedermann jedermanns Freund. Oder Feind. Oder war Schulkollege des Polizisten. 

Kein Wunder, dass auch bei Warnstufe Rot auf der Luftqualitäts-App des Umweltministeriums nichts, rein gar nichts passiert. Dunkelviolette, wütende Gesichter statt grüner Smileys zieren den Bildschirm dort, wo es Sensoren gibt. Tagelang. Wochenlang! Kann es wirklich sein, dass man den Stinker mitten auf dem Land nicht ermitteln kann – oder mangelt es am Willen? Der Druck, kleine bis mittlere Straftaten zu tolerieren oder gar selbst zu begehen ist manchmal überwältigend. Über den Grund kann ich nur spekulieren. Vielleicht, weil jemand, der selbst Butter auf dem Kopf hat, auch der anderen Krähe kein Auge aushackt? Tu du mir nichts, ich tu dir nichts. Tu auch du gefälligst etwas Verbotenes, damit ich dir nicht misstrauen muss!

Und so gewöhne ich mich langsam an das Sperrlinienüberfahren, um der „Lynchjustiz“ zu entgehen. Und hoffe, dass der Polizist, der mich – ja, mich! – eines Tages dabei erwischen wird, wenigstens Deutsch kann. Damit ich ihm diesen Artikel unter die Nase halten kann. Damit er, während er mir einen saftigen Strafzettel ausstellt und meinen Führerschein berappt, statt böse zu gucken, wenigstens herzlich lacht.