Zwischen Ratschlägen und Einsicht

Je älter man wird, umso mehr hört man die Bemerkung: Meine Mutter hat das gesagt – oder meine Mutter ordnete das Haus so ein – oder meine Mutter kochte anders.

Ich finde es schön, wenn möglichst viele Ratschläge und praktische Erfahrungen von der älteren Generation übernommen werden. Jedoch interessanterweise sind nicht nur die positiven Erfahrungen von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter gereicht worden, sondern auch die negativen. So haben die Menschen Generationen hindurch dieselben Fehler begangen, weil diese politisch oder religiös begründet gewesen waren, bis dann die Neuzeit durch Forschung und neue Erkenntnisse diese Fehler zum Teil beseitigte. Bis dahin jedoch haben die Generationen saure Trauben gegessen und den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. Dieser Ausspruch von den sauren Trauben und den stumpfen Zähnen war in der Bibel zum Sprichwort geworden. Was war eigentlich im alten Israel geschehen ?

In der Hauptstadt Jerusalem sah es traurig aus. Vor den Feinden hat Jerusalem kapitulieren müssen, der Tempelplatz ist geplündert worden, das Volk ist beraubt worden. In die Verbannung ging die Reise, hunderte Kilometer weit an den Euphrat. Wie abgeschnitten fühlt sich das Volk Israel in seinem Elend, abgeschnitten von der Welt und abgeschnitten von Gott. So hadern die Israeliten mit ihrem Schicksal. Und dieses Geschehen lag nun schon 50 Jahre zurück und es war keine Änderung in Sicht. Schwankend zwischen ohnmächtiger Wut und Resignation – so könnte man die Stimmung des Volkes im Exil beschreiben.

Doch nur einer unter ihnen macht da nicht mit – der Priester und Prophet Hesekiel. Ihm geht das ewige Gejammer seiner Landsleute gehörig auf den Geist und ihr Selbstmitleid nervt ihn sehr. Dass sie auch gegen Gott murren, das findet er empörend.

Ein gewaltiger und strenger Bußprediger – das ist Hesekiel. Er tadelt, er droht, er mahnt. Und er verlangt nichts weniger von seinen Landsleuten als eine radikale innere Umkehr: „Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel ?“ So wie bisher geht es nicht weiter mit euch. Ihr schimpft auf Gott und die Welt, ihr zerfließt in Jammer und Wehleidigkeit – das ist ja nicht zum Aushalten! Ihr verlangt, dass sich die Verhältnisse ändern? Erst mal müsst ihr euch selber ändern! Das könnte euch so passen, anderen die Schuld für euer Elend in die Schuhe zu schieben! Das ist ja so schön einfach und bequem. Aber so billig kommt ihr Gott nicht davon. Der sieht tiefer – tief bis auf den Grund eurer Seele. Er erwartet nämlich Ehrlichkeit von euch – Ehrlichkeit auch euch selbst gegenüber. Und wenn ihr ehrlich seid, dann werdet ihr feststellen, wie viel bei euch selbst im Argen liegt. Und dass es so nicht weitergehen kann und darf.

Die Rede des Propheten Hesekiel ist schon über 2500 Jahre alt, aber sie passt auch für unsere Zeit. Auch heute wird gejammert. Arm und Reich jammern am selben Tisch. Dabei wird mit dem Finger immer nur auf die anderen gezeigt, die angeblich an dieser Misere schuld sind. Wir zeigen auf die Politiker, die die Weltwirtschaftskrise und den Krieg provoziert haben und nachher im Trüben gut fischen können. Wir wettern gegen die korrupten Neureichen, gegen diese Parvenüs, die Immobilienspekulanten und die Bankiers. Unser Frust wendet sich gegen alle, die besser verdienen als wir, und das ohne Arbeit. Wir schimpfen eigentlich pauschal gegen die ganze Gesellschaft. Und wenn es zum Gericht kommt, woher man Gerechtigkeit erwartet, da wird alles entschuldigt, verzögert und untern Tisch gekehrt.

Hört auf mit euren Gejammer und euren Beschuldigungen, lässt der Prophet am Sonntag uns wissen. Denn Gott ist bereit, Gnade und Barmherzigkeit walten zu lassen, wenn ihr umkehrt und euch zur Versöhnung bereit stellt. Wenn ihr euch einander nähert und euch in Liebe begegnet, so werdet ihr leben. Wenn ihr die Fehler einseht und gemeinsam Abhilfe schafft, dann werdet ihr leben. Wenn ihr das Leid untereinander aufteilt und gemeinsam tragt, so werdet ihr leben.

Das ist ein herrliches Angebot. Solidarität und Hilfsbereitschaft im eigenen Umfeld und die Möglichkeit der Versöhnung. Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid haben hier keinen Platz. Gott ist immer zur Versöhnung bereit, aber wir Menschen tun uns damit schwer. Wie wahr es doch der Prophet formuliert hat. Ob diese Ermahnung auch zur Vernunft bringen kann ? Haben Ratschläge heute noch Erfolg ? Ob sich die Zeiten geändert haben...