Bereits in den frühen Morgenstunden des 22. November herrschte lebhaftes Treiben im Haus der Donauschwaben in Sindelfingen, Deutschland. Forscher aus Deutschland, Ungarn und Serbien, Zeitzeugen sowie zahlreiche Interessierte waren zusammengekommen, um an der ganztägigen Fachtagung „Religiöses Leben in Nachkriegszeit und Diktatur“ teilzunehmen, die vom St. Gerhards-Werk e.V. Stuttgart ausgerichtet wurde. Die Veranstaltung knüpfte an zwei bereits erfolgreich durchgeführte Forschungstagungen an und bildete deren dritte Fortsetzung. Im Mittelpunkt stand dabei das kirchliche Leben der Donauschwaben, das in seinen historischen Tiefenschichten untersucht wurde – von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis hinein in die Diktaturen Ostmitteleuropas.
Die Organisatoren, Prof. Dr. Dr. Rainer Bendel, der Geschäftsführer des St. Gerhards-Werks Stuttgart, und Robert Pech, M.A. (Leipzig), eröffneten die Veranstaltung. Die Tagung beleuchtete aus wissenschaftlicher Perspektive das kirchliche Leben der Donauschwaben anhand von Überblicken und Fallbeispielen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der Vertreibung und Neuansiedlung, half die konfessionelle Bindung vielen Donauschwaben bei der Orientierung in der neuen Heimat. Kirchen wurden – auch durch das alliierte Koalitionsverbot begünstigt – wichtige Anlaufstellen für materielle und seelische Unterstützung sowie für das landsmannschaftliche Zusammenfinden. Die neue Gruppenbezeichnung „Donauschwaben“ wurde dabei bewusst religiös aufgeladen, stieß aber auch auf Enttäuschungen angesichts ungewohnter Frömmigkeitsformen. Die Tagung in Sindelfingen stellte Fragen nach Schwerpunkten und Veränderungen der Religiosität, nach Wechselwirkungen mit einheimischer religiöser Praxis und nach gesellschaftlichen Auswirkungen. Zudem ging es um die Situation der in Ungarn und Rumänien verbliebenen „Schwaben“ und deren kirchliche Integration.
Den Auftakt der Vorträge machte Dr. Claudiu Călin, Leiter des Diözesanarchivs Temeswar, der drei Lebenswege katholischer Ordensleute im kommunistischen Rumänien nachzeichnete. Er schilderte eindrucksvoll, wie Ordensmitglieder zwischen staatlicher Überwachung, innerer Berufung und alltäglicher Gefährdung navigieren mussten. Seine Beispiele zeigten, wie sehr der Glaube für viele ein stiller Widerstand war. Im Mittelpunkt seines Vortrags standen der Franziskaner-Pater Ernst Harnisch, der Salvatorianer-Pater Paulus Weinschrott und die Benediktiner-Schwester von der Hl. Lioba, Hildegardis Wulff.
Ebenfalls nach Rumänien blickte die Verfasserin dieses Beitrags in einem Vortrag über die Notre-Dame-Schwestern, der verdeutlichte, wie ein hoffnungsvoller Neuanfang des konfessionellen Unterrichts nach dem Zweiten Weltkrieg durch staatliche Repression im Keim erstickt wurde. Die Schilderungen offenbarten nicht nur Härten, sondern auch die stille Beharrlichkeit der Armen Schulschwestern, die trotz staatlichen Verbotes Wege suchten, seelsorgerisch präsent zu bleiben. Die bei der Tagung anwesende Zeitzeugin, die aus Temeswar stammende Germanistin Radegunde Täuber (85), erzählte von der damaligen Zeit in Rumänien und ließ ihren von Pater Paulus in mühsamer Arbeit erstellten Rosenkranz aus Bockshörndlsamen reihum gehen.
Dr. Kathi Gajdos-Frank (Heimatmuseum Budaörs) brachte mit persönlichen Zeugnissen die emotionale Dimension der Thematik in den Raum. Unter dem Titel „Die Hoffnung und unser Glaube gaben uns Kraft zum Überleben“ zeigte sie, wie religiöse Gemeinschaften trotz politischer Einschränkungen weiterlebten. Ihre Beispiele aus Ungarn machten deutlich, wie religiöse Netzwerke zum Gegenmodell staatlicher Zersetzung wurden.
Dr. Viktória Muka (Andrássy Universität Budapest) beleuchtete anschließend die Nachwirkung der politischen Figur Jakob Bleyers in der Bundesrepublik Deutschland. Im Mittelpunkt stand der Publizist und Aktivist Ludwig Leber (1903–1974), der die Ungarndeutsche Landsmannschaft prägte und die Erinnerungskultur der Gemeinschaft wesentlich mitgestaltete.
Der Nachmittag widmete sich stärker den transnationalen Perspektiven. Prof. Ágnes Tóth (Eötvös Loránd Universität, Forschungszentrum für Sozialwissenschaften, Institut für Minderheitenforschung, Budapest) sprach über die Situation der Deutschen aus Jugoslawien, die zwischen 1945 und 1948 als „Flüchtlinge oder zu Vertreibende?“ ihren Platz in Ungarn suchten. Prof. Michael Prosser-Schell (Freiburg) untersuchte den St.-Urbanus-Kult in ungarndeutschen Weinbaugemeinden in den 1970-er und 80-er Jahren.
Mit einem weiteren Beitrag aus aus dem kommunistischen Rumänien – genauer aus dem Banat– bereicherte die in Serbien lebende Dr. Réka Miklós (Kunstuniversität Graz, Ferenc-Gál-Universität Szeged) das Tagungsprogramm. Unter dem Titel „Gesangbuchredaktion hinter dem Eisernen Vorhang. Die Gotteslob-Ausgabe für Rumänien“ stellte die Musikologin Ergebnisse ihrer Forschungen vor, die sie unter anderem im Diözesanarchiv Temeswar dokumentiert hat.
Prof. Dr. Rainer Bendel kehrte zum Schluss der Tagung zur Rolle des St. Gerhards-Werkes zurück und schlug dabei einen großen Bogen über die Themen und Befunde der vorangegangenen Beiträge. Für den Geschäftsführer des St. Gerhards-Werks war besonders aufschlussreich, wie im Verlauf der Tagung deutlich wurde, dass „die Frömmigkeitspraxis durchaus Erhellendes beitragen kann zur Einschätzung von Möglichkeiten oder eben auch Grenzen im totalitären Regime“.
Er verwies darauf, dass das St. Gerhards-Werk in seiner Anfangszeit nicht nur organisatorische, sondern auch soziale und mentale Herausforderungen bewältigen musste. Die Vortragenden hätten gezeigt, wie tief Konfliktlinien reichten – etwa dort, wo in Aufnahmegemeinden „die Stimmung so aufgeheizt war, dass es fast unmöglich war, die einzelnen Gruppen zu einer Gemeinschaft zusammenzubringen“ und Seelsorger unter diesen Bedingungen „keiner ein Jahr ausgehalten“ hätten. Solche Beispiele, so Bendel, machten verständlich, weshalb das Gerhards-Werk zu einem zentralen Akteur wurde, der Identität, Orientierung und Zusammenhalt fördern wollte.
Zum Abschluss unterstrich Prof. Bendel, dass die Tagung sichtbar gemacht habe, wie stark die Erfahrungen der Vertriebenen, die kirchlichen Reaktionen und die späteren Organisationsformen miteinander verflochten waren. Die Tagungsbeiträge hätten deutlich gezeigt, dass das St. Gerhards-Werk gerade in diesem Spannungsfeld entstand – als Antwort auf seelsorgerliche Herausforderungen, als Teil karitativer Netzwerke und als Ort, an dem man versuchte, das vielfältige, teils konfliktbelastete Erbe der Vertriebenengemeinden konstruktiv zu gestalten.
Gegen 17 Uhr endete die Tagung, doch der Eindruck blieb, dass hier nicht nur historische Forschung präsentiert wurde. Die Veranstaltung zeigte das vielschichtige Verhältnis zwischen Kirche, Staat und Identität im deutschsprachigen Südosten Europas. Besonders eindrücklich war der rote Faden, der sich durch alle Beiträge zog: Religion war für die Donauschwaben in Diktatur und Nachkriegszeit nicht nur Glaubenssache, sondern Überlebensstrategie, Gemeinschaftsbasis und kultureller Anker.





