In einer malerischen Ecke Bayerns, nicht weit entfernt von der österreichischen Grenze, versteckt und doch wie auf einem Präsentierteller, liegt es. Bis in die 1960er Jahre als „Zuckerbäckerstil“ und „Kitsch“ verpönt, wurde es später zu „einem wichtigen Beispiel des Historizismus“ aufgewertet. Es gehört zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Deutschlands – weit über eine Million Besucher kommen jährlich, um den in Stein verwirklichten Traum des „verrückten Königs“ zu sehen. Unser heutiger Ausflug bringt uns, falls man es noch nicht erraten hat, zum berühmtesten aller deutschen Schlösser, zum Schloss Neuschwanstein.
„...im echten Styl der alten deutschen Ritterburgen“
So beschrieb Ludwig II., König von Bayern, sein Bauvorhaben in einem Brief an den Komponisten Richard Wagner. Beeindruckt von Wagners Werken „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ sowie von seinem Besuch des aus der Ruine auferstandenen Schlosses Pierrefonds in Frankreich, wollte Ludwig ein Beispiel der romantischen Darstellung des Mittelalters auch in seinem Königreich errichten. Der passende Ort für den Bau befand sich nur einen Steinwurf von dem Ort, an dem der König den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verbracht hat. In der Nähe des Schlosses Hohenschwangau befanden sich auf einem Felsplateau die Ruinen der mittelalterlichen Burgen Vorder- und Hinterhohenschwangau.
Die Bauarbeiten am Schloss Neuschwanstein begannen am 5. September 1869. Um genügend Platz für sein „Traumschloss“ zu schaffen, ließ Ludwig die Bergspitze durch Sprengung um rund acht Meter absenken. Mit den Bauarbeiten wurde der Hofbaudirektor Eduard Riedel beauftragt. Der Bau verlangte neben den hohen Kosten auch noch einen enormen technischen Aufwand, der mit der Lage der Baustelle verbunden war. Das Baumaterial wurde zuerst über einen steilen Weg bis zum Fuße des Felsens gebracht, um danach mithilfe eines Dampfmaschinenkrans hochgezogen zu werden. Zum Bestimmungsort gelangte es mit Loren und Flaschenzügen.
Die Verwirklichung des königlichen Traums verschlang enorme Mengen an Baumaterial. Allein im Jahre 1872 lieferte der Zementfabrikant Jakob Lang aus Schongau etwa 450 Tonnen Zement. Im selben Jahr verbrauchte die Großbaustelle 1845 Hektoliter Kalk. Sieben Jahre später, 1879/80, sah der Verbrauch folgendermaßen aus: 465 Tonnen Salzburger Marmor, 1550 Tonnen Nürtinger Sandstein, 400.000 Ziegelsteine, 3600 Kubikmeter Sand, 600 Tonnen Zement. Die Baumaschinen wurden durch den „Bayerischen Dampfkessel-Revisions-Verein“, aus dem der heutige „TÜV“ entstand, auf Sicherheit und Funktionsfähigkeit überprüft.
Eine andere revolutionär moderne Einrichtung der Baustelle stellte der „Verein der Handwerker am königlichen Schloßbau zu Hohenschwangau“ dar. Der Zweck dieses Vereins war, für erkrankte oder verletzte Bauarbeiter für längstens 15 Wochen eine Fortzahlung des Lohnes zu garantieren. Dies war aber nur durch die erheblichen Zuschüsse des Königs möglich. Der Schlossbau war für fast zwei Jahrzehnte der Arbeitsplatz und die Verdienstquelle für einen ganzen Landstrich. Allein 1880 waren an der Baustelle 209 Steinmetze, Maurer, Zementleute und Hilfsarbeiter direkt beschäftigt. Jedoch muss man die Fuhrleute, Landwirte, Händler, Lieferanten und nicht zuletzt auch die Gastwirte hinzuzählen.
Ludwig II. – Märchenkönig und Bauherr
Otto Friedrich Wilhelm Ludwig von Bayern wurde am 25. August 1845 im Schloss Nymphenburg in München geboren. Er war der erste Sohn des späteren bayerischen Königs Maximilian II. und dessen Gattin Marie Friederike von Preußen. Der Großvater des Prinzen, König Ludwig I., der ebenfalls am 25. August geboren worden war, bestand darauf, dass der Rufname des Jungen Ludwig sein sollte. Drei Jahre später wurde Ludwigs Bruder Otto geboren. Von ihrem Vater wurden die Prinzen in keiner Weise auf ihre eigentliche Lebensaufgabe als künftige Repräsentanten eines Volkes vorbereitet. Sie verbrachten ihre Kindheit und Jugend vor allem auf Schloss Hohenschwangau. Die dort vorhandenen zahlreichen Wandgemälde aus der mittelalterlichen Sagenwelt und der deutschen Geschichte beeindruckten Ludwig sehr. Sie verstärkten sein zum Romantischen hinneigendes Gefühlsleben und weckten seine Liebe zu allem Edlen: die schönen Künste, Poesie, Malerei und Musik.
Am 10. März 1884, im Alter von nur 18 Jahre, wurde Ludwig nach dem Tod seines Vaters zum König von Bayern berufen. Zu seinem größten Bedauern musste er feststellen, dass es das von ihm angestrebte ideale Königtum im 19. Jahrhundert nicht mehr gab und er nur ein Repräsentant eines Landes war. Dies kompensierte Ludwig II. mit anderen Aufgaben. Zu seiner Vorliebe wurden die Schlösser. Die einzige Verlobung des jungen Königs mit seiner Cousine, der Prinzessin Sophie Charlotte von Bayern, wurde nur zwei Tage vor der geplanten Hochzeit durch den König aufgelöst. Seine immer stärker werdende Menschenscheue ließ zahlreiche Legenden und Gerüchte entstehen.
Für das einfache Volk wurde er zum Märchenkönig. Die Errichtung oder Neugestaltung der Schlösser Neuschwanstein, Linderhof, Herrenchiemsee oder Falkenstein nahmen immer größeren Platz im Alltag und im Haushalt des Königs ein. Schließlich konnten die Baumaßnahmen nicht mehr aus den jährlichen Einnahmen finanziert werden und die Verschuldung Ludwigs wuchs. Nach seinem Tod betrug sie fast 14 Millionen Mark.
Zusammen mit einigen Mitgliedern der königlichen Familie fasste die bayerische Regierung den Beschluss , den Herrscher für unzurechnungsfähig zu erklären. Am 8. Juni 1886 erstellte ein Ärztekollegium unter der Führung von Dr. von Gudden ein heute noch sehr umstrittenes Gutachten, aus dem hervorging, dass der König geisteskrank sei. Am 12. Juni wurde er von Neuschwanstein abgeholt und nach Schloss Berg am Starnberger See gebracht. Am Pfingstsonntag, den 13. Juni 1886, unternahm Ludwig zusammen mit dem Arzt von Gudden einen Abendspaziergang, von dem beide nicht mehr zurückkehrten. Der rätselhafte Tod des Königs und seines Arztes konnte bis heute nicht aufgeklärt werden. Offiziell verlautete, der König habe von Gudden umgebracht und anschließend Selbstmord verübt.
Die Burg über der Pöllatschlucht
Über einen steilen und geschwungenen Weg kommt man aus dem Tal zum Schloss, das sich über der Pöllatschlucht erhebt. Der Hauptturm misst 79,16 Meter. Den besten Blick auf die Anlage hat man von der im Süden gelegenen Marienbrücke. Diese spannt sich seit 1866 in einem kühnen Bogen über die Schlucht in einer luftigen Höhe von 91 Metern.
Nach dem Tod Ludwigs wurden alle Bauarbeiten eingestellt. Die Kemenate (ein Wohn- und Arbeitsgebäude) am südlichen Rand des Schlosses, wurde 1892 zwar nach den ursprünglichen Plänen, jedoch in vereinfachter Form gebaut. Die Westterrasse und der Bergfried wurden gar nicht errichtet, das Ritterbad nicht fertiggestellt, das zweite Obergeschoss nicht ausgebaut.
Den Rundgang beginnt man nach 73 Stufen des Viereckturms bei den Wohnungen der Bediensteten. Danach folgen weitere 96 Stufen im Hauptturm bis zum Vorraum der königlichen Wohnung im dritten Obergeschoss.
Hier darf man auch den Thronsaal besichtigen. Unter einem Bild, das Jesus, Maria und Johannes den Täufer darstellt, darunter die sechs heiliggesprochenen Könige, sollte der Thron Ludwigs stehen. Flankiert wird die Thronapsis von den zwölf Aposteln. Imposant ist der 900 Kilogramm schwere Lüster, der die Form der Königskrone hat und zwischen dem an der Kuppel abgebildeten Himmel und dem am Fußboden dargestellten Erdkreis schwebt. Die Privaträume des Königs sind reich verziert. Im Speiseraum sind Szenen aus der Wartburg zur Zeit des sagenhaften Sängerkrieges zu sehen. Das Schlafzimmer ist im spätgotischen Stil gehalten. Die Eichenholzschnitzereien verzieren den Baldachin des Bettes, den Waschtisch, den Lesestuhl und die Mittelsäule. Das Bett des Königs ist seiner stattlichen Größe angepasst: Ludwig war 1,91 Meter hoch. In der Hauskapelle, die man aus dem Schlafzimmer erreicht, sind Bilder aus dem Leben des heiliggesprochenen Königs Ludwig IX. von Frankreich zu sehen.
Der wahrscheinlich schönste Raum im Schloss ist das Wohnzimmer. Es wird von unzähligen Bildnissen eines Schwans dominiert. Eine große Blumenvase aus Nymphenburger Majolika in der Form eines Schwanes, des Lieblingstieres Ludwigs II., fällt sofort auf. Das Schwanenmotiv findet sich wieder in den Schnitzereien, wurde auf die Bezüge und Vorhänge gestickt und sogar die Türklinken sind schwanenförmig. Eine künstliche Tropfsteinhöhle mit angrenzendem Wintergarten trennen das Wohnzimmer vom Arbeitszimmer des Königs.
Ein Stockwerk höher ist der größte Raum des Schlosses, der Sängersaal. Im Vorraum wird, wie im Vorraum zum Thronsaal, die Sigurd-Sage dargestellt. Der Galeriegang ist mit Gemälden aus der Gawan- und Gahmuret-Sage geschmückt. In der Kassettendecke sind die Namen der bekanntesten Minnesänger zu sehen. Das Herzstück des Schlosses ist eindeutig dieser Sängersaal. Die Darstellungen aus der Parzivalsage beherrschen diesen Raum. Der Sängersaal ist viel prunkvoller als sein Vorbild in der Wartburg. Hier endet die rund dreißigminütige Führung. Danach gilt es noch 136 Stufen im Südturm, auf der so genannten Dienertreppe, in die Schlossküche hinunter zu steigen.
König Ludwig II. erlebte die Fertigstellung des Schlosses Neuschwanstein nicht. Erst ab 1884 waren einige Räume bezugsfertig. Ob man Ludwig II. für romantisch oder verrückt hält, das Schloss für Kitsch oder als das „beste Beispiel des Historizismus“, es lohnt , dieses Denkmal im malerischen Südbayern zu besuchen. Die Berge, die Ludwig so sehr mochte, stellen eine perfekte Kulisse für das hoch aufragende Schloss dar und die Aussicht, die sich einem von der Marienbrücke eröffnet, belohnt für den Fußmarsch.