Es gibt Plätze, die den meisten Menschen als Sehenswürdigkeit völlig unbekannt sind, obwohl sie beeindruckend wirken. Der Bukarester Friedhof Bellu beispielsweise, wo die entschlafenen Vorväter Rumäniens ruhen – gescheite Köpfe, die aktiv an der Geschichte, Kultur und Politik des Landes teilgenommen haben: Bojaren, Bankiers, Generäle, Wissenschaftler, große oder weniger große Politiker, Gelehrte, Künstler, Philosophen, Historiker, Schriftsteller oder Sportler liegen hier begraben.
Das „Häuschen für die Ewigkeit“ eines Flugzeugpiloten, die „zeitlich unendliche Wohnung“ eines wichtigen Arztes oder das Monument einer Kronprinzessin – diese sind nur drei der zahlreichen komplexen Bauten, verziert mit farbigem Fensterglas oder keltischen Kreuzen. Aufdringlich klettert Efeu über die einst glänzenden, immer noch eindrucksvollen Bauwerke: Grabsteine mit Büsten, Porträtmedaillons oder Flachreliefs, verrostete Kreuze aus minutiös modelliertem Gusseisen und Sarkophage mit Statuen. Es ist eine irgendwie vertraute Umgebung mit ihrer eigenen Atmosphäre: Der Grünspan prächtiger Statuen aus Kupfer tropft auf verwitterten Marmor. Die braunen, nassen Blätter überall erwecken im Betrachter zu jeder Jahreszeit den Eindruck, dass hier ununterbrochen Herbst herrscht.
Der Friedhof Bellu ist ein beachtenswertes Freiluftmuseum. Hier geht es nicht nur um Architektur, die „Exponate“ sind auch in Bereichen wie Geschichte, Kultur oder Anthropologie relevant. Bellu (oder Ştefan Vodă) ist der größte Friedhof Bukarests. Hier kann kaum von einer einheitlichen Galerie die Rede sein: Die Stile sind fast so zahlreich wie die hier begrabenen Menschen. Die Kunstwerke wurden in verschiedensten Formen gestaltet: Einige sehen wie vornehme Miniaturhäuser aus, kleinere Modelle der Originalbauten im Cotroceni-Viertel, mit prächtig dekorierten Eingängen und Treppen.
Andere Bauten sind höhlenähnliche Monolithe oder sehen wie kleine isländische Hütten aus, deren Dächer mit Laubmoos bedeckt sind. Eine Pyramiden-Grabstätte wurde für die Familie Pompilian, eine winzige gotische Kathedrale für einen Arzt namens Tovaru, ein wahres Mausoleum für die bulgarischen Gebrüder Hristo und Evloghie Gheorghieff errichtet. Als Bankiers haben diese nicht nur das Gebäude (das vom Architekten Ion Mincu entworfen wurde) mit den vom Bildhauer Frederic Storck gestalteten Statuen der vier Evangelisten in jeder Ecke aufbauen lassen, sondern auch eine Art Innenhof mit Treppen und Bänken – eine Einladung zum Ausruhen und Nachdenken vielleicht. Allein ist man ja nicht: Die singende Stimme eines Priesters ist in der Weite ganz leise zu vernehmen, ab und zu kündigen Krähen ihre Anwesenheit an.
Die ewige Ruhe im ehemaligen Orangengarten
Der Friedhof ist 30 Hektar groß und wuchs innerhalb von 150 Jahren zu einer vielfältigen Kunstsammlung an. Im 19. Jahrhundert befand sich hier der Hof und Garten des adligen Großgrundbesitzers Barbu Bellu. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhunderten gab es immer wieder Cholera- und Pestepidemien in der Stadt, u.a. auch weil die Verstorbenen rund um die zahlreichen Kirchen in Bukarest begraben wurden. Nur die armen Menschen begruben die Toten außerhalb der Stadt, wo es sieben oder acht Friedhöfe gab.
Bukarest hat Schritt mit der Mode gehalten: Die Behörden haben nach französischem Modell entschieden, die Friedhöfe außer der Stadt anzulegen. Die berühmte Familie des Barons Barbu Bellu hatte zahlreiche Grundbesitze in Bukarest, viele davon wurden der Stadt gespendet. Bellu hatte das Amt des Justizministers inne, als er dem Bukarester Rathaus seinen Grundbesitz am Rande der Stadt spendete.
Im Orangengarten, wo einst Familienfeste organisiert wurden, begannen nun die alten Bojarenfamilien Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Entschlafenen zu bestatten. Die erste offizielle Beerdigung war die der Tochter des Politkers C. A. Rosetti im Jahre 1859. Ihr folgte Aristiţa, die Ehefrau des Dichters Cezar Bolliac. Zu den ersten Familien, die ihre verstorbenen Mitglieder hierher brachten, zählen Cantacuzino, Văcărescu, Florescu, Ghica und Zefcari. Mit der Zeit wurde der Friedhof zu einem wahren Kunstmuseum: Berühmte Architekten, Bildhauer und Steinmetze schufen hier Monumente. Nicht nur die Verstorbenen waren große Persönlichkeiten, sondern auch diejenigen, die ihre Grabmonumente kreiert haben: Emil von Becker, Raffaello Romanelli, Karl, Carol und Frederic Storck, Oscar Han und der schon erwähnte Ion Mincu.
Beeindruckend sind auch die anderen Mausoleen, die vom Architekten Ion Mincu geschaffen wurden und die neobyzantinische Elemente enthalten: die Ruhestätten der Familien Ghica und Cantacuzino. Die Grabsteine der Familien Protopopescu, Vlasto, Iacob und Lahovary wurden von demselben Architekten entworfen.
Hier ruht auch der Dichter Mihai Eminescu unter einer Linde, so wie er es sich gewünscht hat. In derselben Reihe befinden sich die Grabsteine von Ion Luca Caragiale, Liviu Rebreanu und Nichita Stănescu – auf derselben Schriftstelleralee, die anscheinend von vielen besucht wird, da die Blumen auf den Grabsteinen noch frisch aussehen. Trotzdem beeindrucken diese Grabstätten nicht durch ihre Monumentalität. Ihre Kreuze imponieren nicht durch Höhe oder Komplexität der Gestaltung, so wie bei manch anderen, die keine wichtige Rolle in der Gesellschaft gespielt haben.
Jeder Grabstein hat eine Geschichte
Was sagen die Grabsteine über die Menschen aus, die ihre Ruhe im Friedhof Bellu gefunden haben? Hatten diese Menschen außerordentliche Leben geführt – oder war einfach die Liebe ihrer Hinterbliebenen mit tiefen Taschen so groß, dass solch Bauten errichtet wurden? Die Vielzahl der Grabsteine ist überwältigend, so wie die zahllosen Geschichten, die dahinter stecken. Werden diese Geschichten von den Grabstätten enthüllt – oder eher verhüllt?
Der italienischer Bildhauer Raffaelo Romanelli ist der Urheber eines hervorstechenden Statuenkomplexes, des Grabsteins der Familie Poroineanu, der eine tote, auf dem Katafalk liegende Frau darstellt, neben der ein Mann kniet. Die blühende Fantasie der Menschen hat eine melodramatische Geschichte um die rätselhafte Statuengruppe gewoben. Man sagt, Constantin Poroineanu, der Sohn von Sache Poroineanu, einem der wichtigsten Grundstücksbesitzer Olteniens, habe während seines Studienaufenthaltes in Paris eine schöne junge Frau kennengelernt.
Die Geschichte der Liebenden ist berührend: Die beiden heirateten ohne Erlaubnis. Als sie nach Rumänien kamen, erfuhr das Ehepaar, dass Sache Poroineanu vor ungefähr zwanzig Jahren eine ähnliche Erfahrung mit einer Französin erlebt hatte und die Schwiegertochter eigentlich seine leibliche Tochter war. Als das Liebespaar das erfuhr, beging es Selbstmord.
Der Vater nahm sich auch das Leben, kurz nachdem er sein Testament geschrieben hatte, in dem er seinen Besitz der Stadt Caracal vermacht hatte. Leider kann diese herzergreifende Geschichte nicht wahr sein: Die Ehefrau Eufrosina ist 1902 gestorben und Constantin 1908. Der Vater war schon 1899 gestorben. Aus der Monografie über den Bellu-Friedhof, die von Paul Filip geschrieben wurde, geht hervor, dass der Bildhauer Romanelli auch die Büste Sache Poroineanu im Marmor gestaltet hat, die aber in Caracal blieb.
Eine ähnlich dramatische Geschichte wird über die Dame mit dem Regenschirm erzählt, ein anderes bekanntes Werk Romanellis des Friedhofs. Die Belgierin Katalina Boschott wurde in Lebensgröße in einem zeitspezifischen Modekleid auf ihrem Grab dargestellt. Eine Geschichte besagt, dass sie die Geliebte eines reichen Mannes in Bukarest war, der sie als Hauslehrerin seiner Kinder angestellt hatte. Man wisse nicht, fährt die Geschichte fort, ob sie von der Ehefrau des Mannes absichtlich vergiftet wurde oder an einer Blinddarmentzündung gestorben sei. Auch der Geldgeber für die Errichtung der Grabstätte sowie für die Dienste des Bildhauers sei anonym geblieben.
In der Monografie des Friedhofs („Bellu 2000“) stehen recht wenige Informationen zur Verfügung: das Todesjahr Katalinas – 1906 – und der Grund des Todes – eine misslungene Operation.
Im katholischen Teil des Friedhofs kann man die Statue einer Frau und eines Mädchens sehen (Mutter und Tochter wahrscheinlich), rundherum Blumen und gefaltete Zettel. Viele der Besucher scheinen zu glauben, dass diese Statuen Wunder wirken können und schreiben ihre innigsten Wünsche auf einen Zettel.
Ein wahres Kennzeichen von Dingen, die nicht nur auf den ersten Blick schwer zu fassen sind, ist aber der Grabstein von Iulia Haşdeu in der Nähe der Kapelle. Hier wurde der einzige spiritistische Tempel in Bukarest errichtet, auf dem Denkmal steht „Bleib noch ein wenig sitzen“ (Mai şedi pu]in!). Iulias Geschichte ist wirklich etwas Besonderes: Sie war die erste rumänische Frau, die an der Pariser Sorbonne aufgenommen wurde, wo sie Philosophie studierte. Die vielseitig begabte Frau konnte ihre Abschlussarbeit wegen einer Tuberkulose Erkrankung nicht präsentieren. Zu spät wurde sie überredet, Paris zu verlassen, um sich von namhaften Ärzten in der Schweiz und Italien behandeln zu lassen. Zwei Monate vor ihrem 19. Geburtstag ist sie in Bukarest gestorben.
Der Vater konnte aber mit dem Tod seiner einzigen Tochter nicht klarkommen. Seine geliebte Iulia schicke ihm Botschaften aus dem Jenseits, meinte der Universalgelehrte Bogdan Petriceicu Haşdeu: Er widmete sich von nun an dem Spiritismus. Mit Hilfe von Anweisungen seitens seiner verstorbenen Tochter, so zumindest die Aussagen Haşdeus, ließ er nicht nur das Grabmonument im Bellu-Friedhof erbauen, sondern auch ein Schloss in Câmpina. Der drei Meter hohe Tempel hat einen Globus anstatt eines Kreuzes, der von zwei Sphinx-Figuren gestützt wird. Darunter liegt ein Schädel mit offenem Mund, um dem steht „Lasst die Schwalbe ihr Nest bauen.“
Der künstlerische, symbolische und dokumentarische Wert des Bellu-Friedhofs wurde mittlerweile international anerkannt– seitens der ASCE (Association of Significant Cemeteries in Europe, dem Verein für bedeutende Friedhöfe in Europa). Auf diese Weise wurde er Teil eines weltweiten Projektes und in die Liste der europäischen kulturellen Sehenswürdigkeiten aufgenommen, obwohl er in Rumänien nicht sehr beachtet wird.
Es ist wirklich eine berückende Rarität, so viele Kunstwerke pro Quadratmeter betrachten zu können. In einem Museum würde man zusätzliche Medien zur Verfügung haben, die Informationen zu den Exponaten geben. Der Bellu-Friedhof ist aber offiziell kein Museum. Die imponierenden, manchmal zerbröckelnden Figuren haben aber eine andere Wirkung: Sie lösen in dem Betrachter lebhafte Fantasiebilder aus, von dem, was in der Vergangenheit vielleicht gewesen ist .
Ein Spaziergang durch diesen Park ist auch eine Gelegenheit, über allgemeine Fragen nachzudenken. Die Bänke, deren Holz verfault ist, Statuen aus porösem Stein, weibliche Figuren, deren Körperteile hier und dort fehlen, weisen auf eine alte Wahrheit hin, die auf einem Grab steht: „Das, was du bist, war ich auch. Das, was ich bin, wirst du auch sein“.