Nach Sfântu Gheorghe kann man nicht mit dem Auto fahren. Aus Tulcea, dem Tor zum Donaudelta, dauert die Schifffahrt ein paar gute Stunden, da die Strecke ungefähr 120 Kilometer lang ist. Während der Fahrt gewöhnen sich die Augen des Reisenden daran, eine aus ganz wenigen Elementen bestehende Welt zu betrachten. Im Grunde genommen ist Wasser und Himmel alles. Nur die Schicht von Bäumen verbindet sie durch einen grünen Faden. Allmählich nimmt man Abstand von der gescheiterten ursprünglichen Planung des Ausflugs und von den unterwegs erschienenen Schwierigkeiten. Die Welt, die man in Tulcea verlassen hat, wird zur Unwirklichkeit. Wahrgenommen wird ausschließlich die Natur, da sie hier überall herrscht. Sie stellt eine Landschaft zur Schau, die nicht zeitgebunden ist. Die Fahrt hat eine wichtige Rolle: sie reinigt den Reisenden von der modernen hektischen Betriebsamkeit. Gleichzeitig bereitet sie ihn für die Erfahrung am Rande der Welt vor. Sowohl auf die Eingeweihten, als auch auf die Unwissenden übt das Donaudelta immer wieder Faszination aus.
Das Dorf
Das Donaudelta war schon seit uralten Zeiten eine Inspirationsquelle für Schriftsteller, wie beispielsweise den römischen Dichter Ovid, den französischen Autor Jules Verne oder den rumänischen Surrealisten Gellu Naum. Sfântu Gheorghe ist ein Endpunkt auf der Landkarte Rumäniens, die letzte Ortschaft am Donauarm mit demselben Namen, wo der Fluss ins Schwarze Meer fließt. Hier kann man sowohl das Meer als auch die Donau in Ruhe betrachten. Es ist sehr isoliert und deswegen hat sich die aus ungefähr 1000 Bewohnern bestehende Gemeinschaft im Verlauf der Zeit kaum verändert. Wandert man durch das Dorf, sieht man blonde Jungen, die selbstbewusst Pferdewagen lenken. Frauen mit unter dem Kinn gebundenen Kopftüchern schauen dir in die Augen. Männer sind schweigsam und fallen durch ihre abgehärtete Haut und tiefe Falten auf, die sich in ihrem Gesicht fast organisch furchen. Das hat vielleicht damit zu tun, dass dieses Gebiet die trockenste und sonnenreichste Gegend im ganzen Land ist. Tatsache ist, dass der Himmel in kaum einem anderen Ort in Rumänien so klar erstrahlt wie der über Sfântu Gheorghe. Sumpfvegetation mit Schilfrohr wächst in den zahlreichen Kanälen, die ihre Form ständig verändern. Pferde oder Kühe fressen ruhig Gras am Rande des Weges. In der fast stillen Landschaft berührt ein vor Angst nahezu gelähmtes Igelchen die Seele des Touristen. Die Hitze brennt in den Sand, der Sand brennt in die Sohlen. Der Reisende ist gequält, aber er schweigt brav vor der Natur, die sich in rohester Form vor seinen Augen entfaltet. In dem alten Fischerdorf unterwerfen sich die Menschen der Natur in allem, was sie tun, da sie völlig davon abhängig sind. Vorwiegend bereiten sie ihr Essen aus Fisch, sie benutzen „chirpici“ – eine Mischung aus Lehm, Mist und Stroh – für den Bau der Häuser, oft werden die Dächer aus Schilfrohr hergestellt.
Die archaische Gemeinschaft und deren Authentizität
Nicht nur die Natur zieht einen hier auf eine geheimnisvolle, seltsame Weise an. Man befindet sich in einem einzigartigen kulturellen Raum: eine solche Gemeinschaft kann man nirgendwo anders so isoliert antreffen. Die Einheimischen, die auf der Straße diskutieren, sprechen nicht Rumänisch, sondern einen ukrainischen Dialekt. Die meisten Bewohner sind ukrainischer Abstammung und nennen sich „haholi“. Der Name der Ortschaft stammt von dem Namen des Kirchenschützers, dem Heiligen Georg. Die Kirche und das Rathaus bilden den Kern des Dorfes. In der Nähe davon gibt es zwei oder drei Läden, aber kein Krankenhaus. Das Leben ist hier besonders hart und die Bewohner müssen sich oft alleine zurechtfinden. Die nächste große Stadt ist Tulcea, sie ist den Einheimischen aber nicht immer zugänglich, da im Winter die Donau zufrieren kann.
Mit Sfântu Gheorghe entdeckt man an der Schwarzmeerküste und gleichzeitig inmitten des Donaudeltas einen der schönsten Plätze in Rumänien. Sfântu Gheorghe ist seit langem ein touristischer Ort, trotzdem hat das Dorf die eigenen Traditionen bewahrt. Darin besteht auch seine Authentizität. Da es nicht leicht zugänglich ist, bleibt es von äußeren Einflüssen weitgehend verschont. Die Touristen, die sich hier aufhalten, werden auch im Geist von Sfântu Gheorghe „erzogen“. Deswegen haben im Laufe der Zeit keine großen Veränderungen stattgefunden.
Da die Fischerei in diesem Gebiet sehr streng geregelt wurde, haben sich viele Einheimischen in Richtung Tourismus neu orientiert. In letzter Zeit ist das Dorf zu einem regelrechten Sommerurlaubsort geworden.
Der sandige Weg zum Meer
Der Strand liegt einen Kilometer entfernt von dem Dorf. Man betrachtet die Landschaft und wundert sich über ihren starken Einfluss, den man nicht gleich versteht. Parallel zum Weg fließt die Donau. Man bewegt sich langsam, bei jedem Schritt tauchen die Füße tief in den Sand ein. Wenn man das vermeiden möchte, dann gibt es nur eine Alternative dorthin zu gelangen: das Touristentraktorlein „Trocarici“. Das Ende der Welt sieht dann sehr gemütlich aus: Man entdeckt einen ruhigen, sauberen und leeren Strand. Zu still, gäbe es nicht Wind und Meereswellen. Die Einsamkeit kann man hier richtig genießen. Der Sand ist fein und die Disteln zahlreich. Weit entfernt von der Zivilisation stehen ungefähr 30 Kilometer wilder Strand den Naturliebhabern zur Verfügung. Der Strand gehört zum Donaudelta-Reservat, er wird nicht gepflegt, der Tourist sucht hier umsonst das Häuschen eines Rettungsschwimmers. Eine Sache sollte man daher zu allererst berücksichtigen: gefährliche Wasserstömungen werden in der Nähe der Donaumündung ins Meer gebildet, da sollte man auf keinen Fall schwimmen.
Touristen herzlich willkommen
Das Dorf hat vieles anzubieten, da Tourismus sich in den letzten Jahren stark entwickelt hat: Angeln, Wassersportarten, mit dem Boot durch die Kanäle fahren oder einfach Erholung in der Natur. Der schüchterne Nudist kann sich frei bewegen, er findet sicher einen Platz, wo sein nächster Nachbar wenigstens 100 Meter entfernt ist.
Unterkunft kann man nach jedem Geschmack finden: für die anspruchsvolleren Touristen gibt es einen Vier-Sterne-Komplex. Doch Pensionen und Camping-Häuschen sind auch sehr gut ausgestattet und zum Zelten gibt es genug Platz. Die traditionelle Gastronomie sollte man auf jeden Fall ausprobieren, Plakate mit Telefonnummern der Einheimischen, die traditionelle Gerichte anbieten, sind zahlreich. Um Sfântu Gheorghe zu entdecken und verstehen, wäre ein längerer Aufenthalt zu empfehlen, sodass man sich die Zeit nimmt, den Ort und dessen Charme wirklich zu verstehen. Wie man sich danach fühlt? Man vergisst, dass es außer dieser verborgenen Erholungoase noch eine andere Welt gibt. Alles ist nur Sonne und See. Zeit existiert nicht mehr. Aber nur durch das Ausprobieren kann man dies verstehen. Das Gefühl, das einem die Ruhe in Sfântu Gheorghe vermittelt, lässt sich nicht in Worte fassen.