Die Landschaft präsentiert sich in den verschiedensten Farbnuancen. Selbstverständlich sollte man romantische Empfindungen bei einem solchen Anblick haben. Doch der Weg macht seit einer Weile nur noch Schleifen aufwärts und das unangenehme Gefühl im Bauch wird immer akuter. Ob ich es bis ans Reiseziel schaffen kann? Alle anderen im Auto genießen die Fahrt: Der Sohn der gutgelaunten Fahrerin bestaunt die Wasserfälle auf der linken Seite und freut sich schon auf den nächsten Tunnel. Wir befinden uns auf einer Höhe von ungefähr 830 Metern: Vor uns liegen Felsen und endlose Serpentinen mit atemberaubendem Ausblick. Hinter uns windet sich der gigantische Vidraru Stausee durchs Tal - ein kleines „Binnenmeer“ am Fuße des Gebirges.
Von Bukarest aus erreicht man den Stausee über die Autobahn nach Piteşti und fährt dann in Richtung Curtea de Argeş, dem Tor der Transfogarascher Hochstraße, weiter. Von der benachbarten Ortschaft Arefu, wo es zahllose Unterkunftsmöglichkeiten gibt, dauert es nicht lange, bis man den See sehen kann. Eine Burg aus dem 15. Jahrhundert tritt als erstes in Erscheinung. Am Vidraru-Staudamm wacht eine gigantische Eisenfigur aus den 70er Jahren über dem Wasserkraftwerk. Es sind dies die einzigen Elemente, die auf eine bestimmte Zeit hinweisen. Alle anderen hier scheinen zeitlos zu sein.
Steigt man aus dem Auto, hat man den Eindruck, man spielt in einem farbigen Stummfilm. Eine leichte Brise weht mir ins Gesicht und bellende Hunde animieren dann und wann eine ansonsten lautlose Landschaft. Völlige Stille umfängt mich - eine Welt wie versteinert. Ist es Einsamkeit, was man hier plötzlich fühlt? Oder Angst vor einer so stillen Welt, die fast künstlich wirkt? Wie unter einer Glasglocke. Im Laufe des Tages ändert die Landschaft ihre Nuancen, Farben und Texturen. Der See ahmt sie nach und der Wasserspiegel reflektiert treu die Berge, die allmählich im intensiven Blau des Dämmerlichts versinken. Am Vidraru-Stausee, dem tiefsten seiner Art in Rumänien, erlebt man im Schatten des Fogarascher Gebirges eine Welt, die sich ständig langsam verwandelt: bald kristallklar, bald flockig oder milchig – je nachdem, ob es Sonne, Wolken oder Nebel gibt.
Der Vidraru-Stausee
Im Tal ist das Wasser dasjenige, das die Gestaltung der Landschaft bestimmt. Oder besser indirekt der Mensch, denn der Grund, weshalb der Stausee entstanden ist, ist wirtschaftlicher Natur. Überschwemmt wurde eine kleine Ortschaft, so wie es bei der Insel Ada Kaleh auf der Donau der Fall war: Der Vidraru-Staudamm und das Wasserkraftwerk in der Nähe des Berges Cetăţuia zählen zu den größten Projekten Ceauşescus. Das Werk des Bildhauers Constantin Popovici, ein Denkmal, der Elektrizität gewidmet, erinnert an diese alten Zeiten: Mit einem Blitzstrahl in der Hand dominiert die eiserne, männliche Figur das Gebiet. Hinter der enormen Staumauer liegen 465 Millionen Kubikmeter Wasser, insgesamt 900 Hektar Wasserfläche. Es ist ein zehn Kilometer langer See, zwei Kilometer breit und 155 Meter tief. In diesen ergießen sich die Flüsse Buda, Capra, Cernatul, Valsan, Râul Doamnei, Limpedea und Valea lui Stan.
Der Damm auf dem Fluss Argeş bildet mit 166 Metern die höchste Staumauer hierzulande.
Man kann sich also vorstellen, dass es hier nicht immer so still war: Tausende von Menschen wurden in den 60er Jahren eingesetzt, damit der Vidraru-Stausee überhaupt entstehen konnte. 42 Kilometer unterirdische Galerien wurden gebohrt, mehr als 1.5 Millionen Kubikmeter ausgegraben und über 900.000 Kubikmeter Beton gegossen. Das alles hat seinerzeit fast 1,5 Milliarden Lei gekostet. Ausgeglichen wurde die Investition in ungefähr drei Jahrzehnten.
Das Leben im Tal im vergangenen Jahrhundert
Bevor das Wasser das Tal füllte, wohnte hier - umringt von Wäldern - nur eine Handvoll Menschen. Ihre Geschichte wurde vom Wasser überflutet, die Leute vergessen. In der Umgebung hatten Förster ihre Hütten, Adlige und Künstler ihre Ferienhäuser: Ein Dorf namens Cumpăna entstand. Man sagt, der Maler Rudolf Schweitzer-Cumpăna kam jeden Sommer hierher, um zu malen. Auch die Familie Brătianu besaß ein paar Häuser. Die Ruinen seien immer noch sichtbar, wenn das Wasserniveau niedrig ist, sagen die Leute. Auch hier gab es einst eine dampflokbetriebene Schmalspurbahn. Diese hielt in Albeşti, Oeşti, Valea cu Peşti und Cumpăna an.
Sehenswürdigkeiten und Attraktionen in der Nähe
In diesem Raum erinnern Spuren an verschiedene Zeitalter, die nebeneinander etwas anachronistisch wirken, die Touristen aber bezaubern. Das Angebot ist vielfältig, auch wenn es zu Beginn nicht so scheint. Für Kultur- und Geschichtsinteressierte wäre das Kloster Curtea de Argeş empfehlenswert, das auf Initiative von Neagoe Basarab erbaut wurde. Es befindet sich nicht weit entfernt vom See. Auf der Spitze des Berges Cetăţuia liegt wie ein Adlernest die Burg Poienari. Vlad Tepeş der Pfähler ist der Urheber dieser Festung. Die Burg besichtigen die Touristen meist, nachdem sie eine Fahrt auf dem See unternommen haben. Am Kai neben der Fogarascher Hochgebirgsstraße legt regelmäßig ein Schiff an. Um die Burg zu erreichen, muss man 1480 Treppenstufen durch den Buchenwald steigen. Am Damm können Extremsportliebhaber Bungee Jumping betreiben.
Die beste Straße der Welt?
Eine beliebte touristische Attraktion ist die Straße an sich: In den 70er Jahren wurde die Fogarascher Hochgebirgsstraße „Transfăgărăşan“ errichtet, die Siebenbürgen mit der Walachei verbindet. Die 150 Kilometer lange Straße erreicht eine Höhe von über 2000 Metern. Sie beginnt im Kreis Argeş in der Ortschaft Bascov und endet an der Kreuzung mit der Straße DN1 zwischen Hermannstadt/Sibiu und Kronstadt/Braşov, in der Nähe des Dorfes Cartişoara. 6000 Tonen Dynamit waren nötig, um die Straße zu bauen. Eingeweiht wurde sie unter der Herrschaft von Nicolae Ceauşescu im September 1974.
Die bekannte Autosendung Top-Gear des britischen Fernsehsenders BBC bezeichnete sie als die beste Straße der Welt. „Von oben sieht sie aus, als ob jede großartige Kurve jeder ausgezeichneten Rennstrecke der Welt zusammengeknüpft wurde, um eine außergewöhnliche Grundlage für automobiltechnische Perfektion zu schaffen“, kommentiert Jeremy Clarkson. Für Geschwindigkeitsliebhaber ist die Fahrt als ganz besonderes Erlebnis also ein Muss. Für in den Motorsport Nicht-Eingeweihte gibt es einen anderen Grund, weshalb die Fogarascher Hochgebirgsstraße die beste Straße der Welt sein könnte: der Genuss der herrlichen Landschaft.