Wer schon einmal in Neapel war, konnte sie sicherlich nicht übersehen: rote Hörnchen, die wie eine Chili-Schote aussehen, ganz klein, um sie ins Portemonnaie zu stecken oder riesengroß wie die Kappe eines überdimensionalen Wichtelmännchens. Sie sind in den meisten Geschäften und Souvenir-Ständen auf der Straße zu kaufen – einfach, als Schlüssel- oder Kettenanhänger, als Kühlschrankmagnet oder auf T-Shirts abgebildet. Man sieht sie über Haustüren, in Restaurants, Cafes oder Hotels und es gibt kaum eine Airbnb-Wohnung die nicht damit ausgestattet ist. Die leuchtend roten Hörnchen heißen Cornicelli und sind das Mittel erster Wahl gegen den „bösen Blick”. Sie sollen dem Besitzer Glück bringen und funktionieren nur, wenn sie geschenkt werden. „Ein Hörnchen kauft man nie für sich selbst, das bringt Unglück. Das kann man nur geschenkt bekommen. Oder wenn man es für sich kauft, sollte eine andere Person mit wenigstens 10 Cent beitragen, damit es wirkt”, erklärt eine Verkäuferin. Den Beschenkten soll man mit der Spitze des Horns leicht am Handrücken berühren – dann wird das Souvenir aktiviert und entfaltet seine Wirkung.
Die Farbe rot steht in vielen Kulturen für Glück. Auch in Japan. In der Nähe von Osaka befindet sich der Katsuo-ji Tempel, von dem ich während einer Japan-Reise aus einem Werbeprospekt erfahren habe. Der Name des Tempels steht mit einem Kaiser in Verbindung, der hier immer seine Siege feierte. Als Dank habe er dem Tempel die Zeichen „katsu” für „gewinnen, siegen“ und „o” für „König“ verliehen, die als „gewinnt gegen einen König“ gedeutet wurden.
Doch es handelt sich nicht um den Sieg gegen einen anderen Mann – sondern um den Sieg über sich selbst. Oft steht man sich selbst im Weg in der Erfüllung von Zielen. Die Drachen und Dämonen, die man bekämpfen muss, sind meistens eigene. Diese Philosophie, die in der Überwindung eigener Schwächen, Ängste und Begrenzungen durch innere Stärke und Disziplin die größte Form des Sieges sieht, die über äußere Eroberungen hinausgeht, gefällt mir so gut, dass ich mir wünsche, den Tempel zu besuchen. Und nicht nur deshalb fühle ich mich von diesem Ort angezogen, sondern auch, weil sich auf dem Tempelgelände Tausende von roten Daruma-Figuren befinden. Diese sollen bei der Verwirklichung von Träumen (und beim Sieg über sich selbst) behilflich sein. Leider war die Zeit zu knapp, um den Tempel zu besuchen. Doch in Kyoto kaufte ich mir ein Daruma-Männchen.
Daruma-Männchen helfen, Ziele zu erreichen
Daruma ist der japanische Name für den Mönch Bodhidharma, der zwischen 440 und 528 lebte. Er gilt als Begründer des Chan- und Zen-Buddhismus. Er wird rund, ohne Arme und Beine dargestellt. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen: Er verstecke die Gliedmaßen unter der Mönchsrobe, lautet eine. Er habe neun Jahre meditiert, so dass seine Gliedmaßen verkümmerten, besagt eine andere.
Beim Daruma-Männchen funktioniert es wie folgt: zunächst wird eines der beiden Augen des Glücksbringers ausgemalt. Dabei sollte man sich auf seinen Wunsch fokussieren. Dann wird die Figur an einen Ort gestellt, an dem man möglichst jeden Tag vorbeikommt. Ist der Wunsch in Erfüllung gegangen bzw. das Ziel erreicht (laut einigen Quellen sollte dies in höchstens drei Jahren passieren), wird auch das andere Auge ausgemalt. Danach kann die Figur zum Tempel zurückgebracht werden, wo man sie gekauft hat. Die Figuren haben ein kleines Gewicht an der Unterseite, damit sie immer wieder in ihre Ursprungsposition zurückfallen. Man könnte auch sagen, dass sie immer wieder auf ihre Füße fallen, weshalb sie auch Stehauf-Männchen genannt werden. Dieses „Wiederaufstehen“ steht sinnbildlich für Erfolg und das Bewältigen von schwierigen Situationen. Daruma wird des-wegen auch mit dem japanischen Sprichwort „nanakorobi yaoki” in Verbindung gebracht: siebenmal hinfallen und achtmal wieder aufstehen.
Cornicelli schützen von Unheil
Warum sehen die Cornicelli aus wie ein krummer Paprika? Nach dem Volksglauben ist der vermeintliche Träger der bösen Blicks ein magerer Einzelgänger mit blassem Gesicht und gebogener Nase. In der Vergangenheit konnte man mit ein wenig (Un-)Glück sogar einem professionellen Überbringer des bösen Blicks begegnen. Der „malocchio” war ein schwarz gekleideter Mann mit einem unheimlichen Gesichtsausdruck, der durch die Geschäfte Neapels ging. Er stellte sich unheilverkündend vor eine Schaufensterscheibe und starrte dem Ladenbesitzer direkt in die Augen. Gegen eine kleine Spende verschonte ihn dieser „berufliche jettatore” dann praktischerweise höchstpersönlich gegen die Folgen seines bösen Blicks.
Die Ursprünge des roten Horns reichen zurück bis vor etwa 3500 Jahren, bis in die Jungsteinzeit, als man einen hornförmigen Gegenstand außerhalb des Wohnraumes aufhängte, um Fruchtbarkeit und Wohlbefinden sicherzustellen. Die Hörner beziehen sich auf die Stärke der Tiere, und wie wir alle wissen, wurden Reichtum und Wohlergehen am Besitz von Tieren und damit an Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Ressourcen gemessen. Außerdem war die Größe der Hörner ein entscheidender Aspekt: Je größer sie waren, desto mehr bedeuteten sie Stärke, so dass sich auch die großen Krieger damit schmückten.
Laut der neapolitanischen Tradition muss das Cornicello über besondere Merkmale verfügen, um wirklich Glück zu bringen: es muss hart und hohl sein – so dass man es mit Salz füllen kann, ein weiterer Wirkstoff mit apotropäischen Kräften –, sinusförmig und spitz zulaufend. Darüber hinaus sollte es ausschließlich handgefertigt sein und vor allem sollte es geschenkt werden. Das Cornicello ist noch stark mit der Tradition der Stadt verbunden: man findet es überall, in allen Formen und Größen, unterschiedlich verziert, als Gegenstand mit geringem Wert bis zum eleganten und wertvollen Schmuckstück. Jeder kann selbst entscheiden, es zu nutzen.
Ich bekam ihn als Kühlschrankmagnet von einer Freundin geschenkt und er kam in meine Kollektion von „Glücksbringern aus aller Welt”, neben einer bunten Tanzmaske aus Sri Lanka, einem „blauen Auge” aus der Türkei und einer winkenden Maneki-neko-Katze aus China.
Das Auge des japanischen Daruma, der in der Bibliothek steht, habe ich noch nicht ausgemalt. Ich habe mir jedoch vorgenommen, es zu Jahresanfang zu tun und danach mein Ziel zu verfolgen. Ob es in drei Jahren erreicht wird, hängt zu 99 Prozent von mir selbst ab, das restliche eine Prozent überlasse ich dem Daruma. Ich bin fest davon überzeugt, dass man seines eigenen Glückes Schmied ist, und dafür steht auch die sympathische Figur aus Japan. Wenn der Wunsch in Erfüllung gegangen und das Ziel erreicht ist, werde ich das rechte Auge ausmalen und den Glücksbringer persönlich zum Katsuo-ji Tempel bringen.








