Die Beziehung zur eigenen Stadt ist eine komplizierte Geschichte. Je nach Größe und Bedeutung sehnen sich viele entweder danach ihre Heimatstadt irgendwann zu verlassen oder sie erklären sich zu waschechten Einwohnern, deren Scheitern und Gelingen eng verknüpft ist mit dem ihrer Stadt.
Es ist eine wilde Achterbahnfahrt widersprüchlicher Gefühle, die oft dazu führen, dass man seine Stadt zu kritisch beäugt – oder überhaupt gar nicht. Wobei letzteres selten eine Grundcharakteristik des Durchschnittsrumänen ist. Selbstkritik aufgrund eines geringen Selbstvertrauens ist eines der Wesenszüge des rumänischen Volkes. Wir haben uns geschichtlich oft in der Opferrolle wiedergefunden. Kaum ein Rumäne hat nicht zumindest einmal resigniert die Worte ausgesprochen: „Ce să faci? N-ai ce să faci!“ (dt. „Was soll man machen? Man kann nichts machen!“) – der inoffizielle Wahlspruch der Rumänischen Republik. Sie summiert am besten, was uns als Volk ausmacht: Man ist konstant empört, man schaut ständig zum Nachbarn hinüber und scheitert kläglich dabei, selber etwas zu bewegen und sich aus der Misere zu ziehen. Hier und da folgt dem Kapitulations-Ächzen ein nostalgisches Seufzen: Denn früher war alles besser.
Besonders Temeswarer schauen gerne zurück, wenn sie über ihre Stadt sprechen. Immer stolz, aber auch immer verlegen, wenn sie von ihr reden. Welches die goldenen Jahre der Stadt gewesen sein sollen, darüber scheiden sich die Geister. Konsens finden aber fast alle in der Behauptung, dass es heute auf jeden Fall nicht besser ist.
Stadt der Premieren
Schließlich ist Temeswar die erste freie Stadt Rumäniens: Hier wurde dem Ceau{escu-Regime der Kampf angesagt, und später dem Kommunismus. Hier fuhr die erste elektrische Straßenbahn Rumäniens, hier wurde die erste Zeitung Rumäniens herausgebracht, und mit den „Temeswarer Nachrichten“ die erste deutschsprachige Zeitung Südosteuropas. Es ist die erste europäische Stadt mit elektrischer Straßenbeleuchtung und die Stadt mit der ältesten Bierfabrik Rumäniens.
Mit so vielen Premieren ist es schwer, nicht sowohl mit Stolz als auch mit Sorge auf die Geschichte der Stadt zurückzuschauen. Aber selbst wenn die Jahre der großen Errungenschaften vorbei zu sein scheinen – rein subjektiv betrachtet –, bleibt Rumäniens Klein-Wien eine Erfolgsgeschichte, trotz einer allgemeinen Identitätskrise, die überhaupt das rumänische Volk durchläuft. Mehr als dreißig Jahre sind seit der Wende vergangen, und Rumänien hat noch immer nicht das schwere Erbe der kommunistischen Ära abschütteln können. Und gerade hier enttäuscht auch eine Stadt wie Temeswar, die sich zwar gerne damit brüstet, die Revolutionsstadt zu sein, in Sachen Aufarbeitung aber kaum etwas bewegt hat.
Beschämend ist auch das desaströse Sanierungsprojekt des Hunyadi Schlosses. Es ist nicht nur das bedeutendste Baudenkmal der Stadt, es ist auch Sitz des Banater Nationalmuseums, welches seit 15 Jahren geschlossen ist.
Und obwohl die Stadt eine reiche Geschichte besitzt, fehlen grundlegend Einrichtungen, welche diese Geschichte wiedergeben. Touristen, die gerne Museen besichtigen wollen, werden in Temeswar nicht fündig. Das Nationale Kunstmuseum ist für seine Dauerausstellungen zu empfehlen, die Revolutionsgedenkstätte früher für seinen kuriosen und kontroversen Leiter, und dann das Banater Dorfmuseum – hier hören die Empfehlungen auch schon auf. Es gibt ein Popa Popas Museum – obwohl der preisgekrönte Karikaturist weltweite Anerkennung für seine Arbeit erhalten hat und auch als eine der größten rumänischen Persönlichkeiten angesehen wird, bleibt er auch nicht minder kontrovers.
Zumindest Theater-Vorstellungen könnten sich Touristen anschauen. Temeswar ist die einzige Stadt mit drei Staatstheatern in drei verschiedenen Sprachen. Und die Vorstellungen des deutschen sowie ungarischen Staatstheaters sind nicht nur als Kuriosum sehenswert: Die zwei Häuser haben in der jüngsten Vergangenheit hochwertiges, zeitgemäßes Theater produziert. Auch das Nationaltheater ist ein wichtiges Theater, welches zwar anderen Städten hinterherhinkt, sich aber beim Publikum großer Beliebtheit erfreut. Die Oper wird von diesen drei Theatern leicht überschattet.
Stadt der Korruption
Das Potenzial dieser kulturellen Einrichtungen wird aufgrund von Korruption verschwendet. Das Scheitern der meisten Einrichtungen ist ihren Leitern zu verdanken, die selten aufgrund ihrer Erfahrung befördert wurden. Meistens erhielten sie den Job aufgrund ihrer Parteitreue. In den seltenen Fällen, in denen sich ein Leiter als durchaus kompetent erwies, versuchte man sich seiner zu entledigen. Temeswar leidet, so wie die meisten Städte Rumäniens, weil politische Parteien zu viel Macht genießen. Das hat eben etwas mit der rumänischen Grundhaltung zu tun: Man betrachtet sich als hilfloses Opfer, ohne den Sinn und Zweck einer politischen Partei zu verstehen. Eben weil sich Rumänien mit seiner kommunistischen Vergangenheit nicht auseinandersetzt, was wiederum gewollt ist.
Doch was Temeswars Fortschritt bremst, ist das eigene aufgebauschte Bild von sich selbst. Das Temeswar überhaupt den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ erhalten hat, grenzt tatsächlich an ein Wunder. Denn es hat Jahre gebraucht, um überhaupt die wichtigen Akteure zusammenzubringen. Und im Endeffekt wurde der Wettbewerb auf Landesebene nicht wegen, sondern trotz der sogenannten kulturellen Elite der Stadt gewonnen.
Temeswarer müssten von ihrem hohen Ross runterkommen. Denn zwischen Wichtig-Getue und Selbstmitleid vergisst man die konstruktive Kritik. Viel zu lange hat man nur Kritik geübt, ohne mit Gegenvorschlägen zu kommen. Tatsächlich war und ist Temeswar noch nicht bereit, „Kulturhauptstadt Europas“ zu sein. Und das obwohl die Verleihung dieses Titels den Sinn und Zweck hat, die Entwicklung einer Stadt, die Potenzial hat, voranzutreiben. Es ist im Grunde genommen ein Geschenk. Und dieses Geschenk weiß Temeswar nicht zu würdigen. Weil die meisten Bürger es schlichtweg noch nicht verstehen und eine Handvoll „Eliten“, die sich als Vertreter sehen, überholt sind.
Stadt der Zukunft
Die einzige Hoffnung sind jüngere Kulturschaffende, die noch nicht Ämter und Funktionen suchen, deren Ego noch nicht der alleinige Entscheidungsträger ist. Und in Temeswar leben und arbeiten viele junge aufstrebende Menschen, die sich aber oft noch zurückhalten. Ihre Erfolgsgeschichten werden meist von Ausländern erzählt.
Das Geschichte des heutigen Temeswars ist so komplex und schwierig zusammenzufassen wie die Geschichte jeder mittelgroßen Stadt, die Wachstumspotenzial hat. Temeswar ist ein wichtiges wirtschaftliches Zentrum für Rumänien. Für einen Bürger, der sowohl die Jahre vor als auch nach der Wende erlebt hat, muss die Diskrepanz groß sein. Die Geschichte einer Stadt ist die Geschichte seiner Menschen. Temeswar ist eine Stadt, die aufgrund von Migration zunehmend wächst. Kulturen und Lebensweisen stoßen unfreiwillig aufeinan-der. Die Frage nach Identität wird neu gestellt. Gleichzeitig bremst Korruption in den meisten staatlichen Institutionen ihre Entwicklung. Erst wenn sich dort etwas tut, wird auch Temeswar erneut eine Stadt der Premieren sein. Und nicht nur Temeswar, sondern auch Rumänien.
Dann werden auch Touristen mehr zu sehen haben als einige kränkelnde kulturelle Angebote, die man-chmal den Anschein erwecken, dass wir uns für unsere Geschichte schämen würden.