Die Urlaubssaison mag zwar so gut wie zu Ende sein, doch der nächste Urlaub kommt bestimmt und wer rechtzeitig sucht und bucht, der mag sich das eine oder andere Schnäppchen sichern. Dabei kommen für immer mehr Touristen auch gerne ausgefallenere Urlaubsziele in Frage, die jedoch auch Fragezeichen mit sich bringen. Schon mal von Katastrophentourismus gehört? Der Begriff beschreibt das Reisen an Orte, die von Schmerz, Leiden, Naturkatastrophen oder Tod geprägt sind und teils dazu gedacht sind, lehrreich zu sein und geschichtliche Hintergründe zu vermitteln. Teils aber regen sie auch nur die Neugier oder die Sensationslüsternheit der Touristen an und machen das Geschäft, je nach moralischer Auffassung, schwer oder vielleicht auch gar nicht vertretbar.
Zur ersten Kategorie gehören beispielsweise die als Gedenkstätten und Mahnmale erhaltenen NS-Konzentrationslager aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die bekanntesten von ihnen sind wohl Auschwitz-Birkenau in Polen, das seit 1979 auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes steht, oder Dachau in der Bundesrepublik Deutschland und viele andere mehr, die die Verbrechen und das Grauen des Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges nicht in Vergessenheit geraten lassen. Dabei zeigt sich diese Art „Touristenattraktion“ in den letzten Jahren als äußerst gefragt: Über 2,1 Millionen Besucher schritten 2018 durch das weltberühmte Tor mit der Inschrift „Arbeit macht frei“. Es sind Touristen aus aller Welt, die unterschiedlich viel zum Thema wissen oder Schüler- und Studentengruppen, die sich im Unterricht bereits mit den geschichtlichen Hintergründen auseinandergesetzt haben.
Ein weiteres beliebtes Reiseziel ist Tschernobyl, wo sich am 26. April 1986 im Reaktor 4 des Kernkraftwerkes unweit der 1970 gegründeten Stadt Prypjat die mittlerweile weltbekannte Reaktorkatastrophe ereignete. Bei einer unter der Leitung von Anatoli Stepanowitsch Djatlow geführten, am 25. April 1986 begonnenen Simulation eines vollständigen Stromausfalls, kam es aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften sowie der baubedingten Eigenschaften des Kernreaktors zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg, der am 26. April um 1.23 Uhr zur Explosion des Reaktors führte. Der beschädigte Reaktorblock wurde ursprünglich durch einen provisorischen, sogenannten „Sarkophag“ gedeckelt. Im Februar 2013 stürzte aufgrund hoher Schneemassen das Dach der Maschinenhalle in der Nähe des Sarkophags ein. Dem ukrainischen Zivilschutzministerium zufolge kam es dabei zu keinerlei Austritt radioaktiver Partikel, das machte aber die zweite Schutzhülle, deren Bau bereits 2010 begonnen hatte, sicherlich nicht weniger willkommen. Als erste Maßnahmen wurden das Dach des ursprünglichen Sarkophags verstärkt und seine Belüftungsanlage verbessert. Der neue Sarkophag wurde von 2010 bis 2016 ca. 200 Meter neben dem geborstenen Reaktor aufgebaut und anschließend auf Kunststoffgleitschienen über den alten Sarkophag gefahren. Dadurch soll es möglich sein, den alten Sarkophag zu entfernen, ohne dass weitere radioaktive Stoffe freigesetzt werden. Heutzutage ist das Sperrgebiet teilweise wieder zugänglich. Im Umland und dem Stadtgebiet von Tschernobyl leben bis auf eine weiterhin unbewohnbare Kernzone von 30 Kilometern Durchmesser rund 700 Personen. Auch Touristen lassen sich immer öfter blicken: Waren es 2017 an die 50.000, stieg ihre Zahl 2018 auf 72.000. In diesem Jahr soll die Schallgrenze von einer Million Touristen erreicht werden, die vor allem die Geisterstadt Prypjat besichtigen, wo die verschiedensten verlassenen Gebäude und selbst ein Rummelplatz mit Riesenrad und Autoscooter besucht werden können. Vor dem Hintergrund des sich verstärkenden Interesses, seit Mitte des Jahres auch Dank der Ausstrahlung der Miniserie „Tschernobyl“ bei Netflix, stellt sich die Frage, wie weiter mit der Stadt umgegangen werden soll. Einerseits wird die Region aufgrund der Kontaminierung mit radioaktivem Material auf unbestimmte Zeit teilweise unbewohnbar bleiben - andererseits ist der Ort zum Sinnbild der Anti-Atomkraft-Bewegung geworden und stellt damit ein Mahnmal dar, was vor allem für die Denkmalpflege interessante Diskussionen hervorruft. Es gibt Stimmen für die Aufnahme der Stadt in die Welterbeliste der UNESCO.
Weitere ähnliche Reiseziele sind die Killing Fields in Kambodscha, das aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Geisterdorf Oradour sur Glane oder das Schlachtfeld von Verdun in Frankreich, Ground Zero in New York, Pompeji bei Neapel/Italien, Hiroshima oder der Selbstmordwald Aokigahara am Fuß des Vulkans Fuji in Japan. In Rumänien ist, unter anderem, die Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des Widerstandes in Sighetu Marmatiei zu besuchen und der Bau eines Holocaust-Museums in Bukarest wird zurzeit in Erwägung gezogen.
Abgesehen vom Touristenzulauf, den diese teils erst seit Neuestem zugänglichen Reiseziele generieren und dem damit verbundenen Gewinn, kommt immer öfter auch die Frage nach der Moral dieser Art von Geschäft insgesamt auf. Ist der Katastrophentourismus moralisch vertretbar oder eher ein Hohn für die Opfer? An den meisten dieser Standorte sind Menschen auf gewaltsame Weise gestorben und ihrer sollte man angemessen gedenken. Umso unverständlicher ist es, wenn Jugendliche sich in fraglichen Posen in Auschwitz oder Prypjat fotografieren, die Fotos in die sozialen Medien stellen und sie so zur Selbstdarstellung nutzen, anstatt sich zum Nachdenken anregen zu lassen.
Man mag dafür oder dagegen sein, Tatsache ist jedoch, dass der Katastrophentourismus existiert und sogar Gewinne generiert - und wo Gewinn zu erwirtschaften ist, wird sich immer jemand finden, der ein möglichst großes Stück vom Kuchen abhaben will. Es gibt eben Menschen, die sensationslüstern sind und sich auch nicht die Mühe machen, vor dem Besuch eines solchen Denkmals sich Wissen anzueignen. Viele andere halten den Besuch solcher Orte dennoch für notwendig, lehrreich und für einen wichtigen Teil des Nachlasses für die kommenden Generationen, den es um jeden Preis zu erhalten gilt. Nicht zuletzt kann man für die Zukunft nur hoffen, dass letztere den ersteren mit Feingefühl dazu verhelfen können, ihre Anwesenheit an solchen Orten des Gedenkens nicht zur Belästigung werden zu lassen und informierter, bescheidener und rücksichtsvoller durch den Ausgang zu gehen.