Man kann ihn einfach nicht verpassen. Egal wie man in Ulm anreist, sieht man den höchsten Kirchturm der Welt – stolze 161,53 Meter hoch – und kann mit seiner Hilfe das Stadtzentrum auch ohne Stadtplan anpeilen. 125 Jahre seit seiner Fertigstellung feiert in diesem Jahr das Ulmer Münster. Ein Wahrzeichen der Stadt, das sie deutschland- und auch weltweit bekannt gemacht hat. Die Handwerker, die der Gotik verpflichtet waren, haben auch im Falle des Ulmer Münsters bewiesen, dass Meisterhände so in Stein meißeln können, dass es aussieht wie Krepppapier. Perfekt und doch locker – wenn man nur einmal hinschaut, sieht man nur das Schöne. Beim näheren Betrachten aber kann man sich die Mühe vorstellen, die das Kunstwerk abverlangte.
Dieses Jahr lässt sich das Münster feiern und darauf bereitet sich Ulm schon seit einer Weile vor: Lokale und internationale Kunstprojekte begleiten die Jubiläumsausstellung und das Münster über das ganze Jahr. Abends lässt ein Lichtspiel das Münster in seinen schönsten Details aufblühen: „Münsterscanning“ heißt dies in einem neuen Jargon. Hochmodern als Technologie und Realisierung ist das Projekt des Stuttgarter Künstlers Joachim Fleischer: bewegliche LED-Leuchten füllen den Baukörper mit weißem Licht, dieses wird langsam von innen nach außen transportiert und tastet dabei die Architektur ab. Ein Schauspiel, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
Ich bin für zwei Tage in Ulm - auf Einladung der Frauenakademie Ulm, des Donaubüros Ulm/Neu-Ulm und der Kulturreferentin für Südosteuropa Dr. Swantje Volkmann - und jeden Tag, fast zu jeder Stunde, werden meine Blicke vom Münster angezogen. Man kommt ja auch immer am Münster vorbei, das ich aus dem Geographie-Unterricht vor vielen Jahren kenne. Endlich ist es in fassbare Nähe gerückt. Ein Besuch ist Pflicht, deshalb ist es mein erstes Ziel in Ulm. Aus meinem Hotelzimmerfenster sehe ich den Turm, das Bahnhofsviertel ist schnell verlassen, der Turm irgendwo vor mir, ich komme in die Einkaufs- und Bummelstraßen, der Turm rückt immer näher, bis die ganzen Firmen und Geschäfte, von Hugendubel bis Müller, den Blick freigeben auf einen Marktplatz: den Ulmer Münsterplatz - und da vorne thront er jetzt in seiner ganzen Pracht, schöner als in den Berichten von Freunden und höher als im Erdkundeunterricht.
Ein Spatz half beim Bau
Dank einem Wunder ist der Ulmer Münsterturm im Zweiten Weltkrieg von den Bomben verschont geblieben, während fast alles um ihn herum niedergeschmettert wurde: die Häuser am Münsterplatz sind den alten zwar nachgebaut worden, an der Bausubstanz erkennt man aber, dass es sich um Kopien handelt: die neuen Hausgiebel sind nach dem Vorbild der alten und um sich in der Stadtlandschaft bestens zu integrieren ebenso steil dreieckig–spitz gebaut.
Auf ihr Münster sind die Ulmer stolz und sollten es auch sein, denn der erst 1890 fertiggestellte Bau ist ihnen zu verdanken. Die Bürger einer bei der Grundsteinlegung lediglich 10.000 Einwohner zählenden Stadt haben das Schmuckstück finanziert. Das Münster hat ein Fassungsvermögen, doppelt so groß wie die Einwohnerzahl Ulms beim Legen des Fundaments.
Die Geschichte der Errichtung dieses Baudenkmals ist mit einer Sage verbunden: Die Ulmer wollten einen langen Holzbalken in die Stadt transportieren, dieser passte aber nicht durch das Tor. Da sahen sie plötzlich ein Vöglein – ein kleiner, unscheinbarer Spatz, der an seinem Nest baute und mit einem Zweig, den er längs im Schnabel hielt, durch das Tor flog. Da ging den Ulmern ein Licht auf, sie legten den Balken der Länge nach auf ihren Karren und nicht quer, wie bis dahin. Diese Sage hat auch ein zweites beliebtes Wahrzeichen der Stadt entstehen lassen, die Spatzen.
Auch wenn es in Ulm nicht mehr Spatzen als woanders gibt, hier sind sie eines der beliebtesten Motive: Spatzen gibt es in Souvenirläden zu kaufen, aus Holz oder Keramik, riesige Metallspatzen sind an Gebäuden angebracht und zieren die Straßenecken in der Ulmer Altstadt, jedes Mal in anderen „Kleidern“ – damit haben sich die Künstler einen Schabernack erlaubt, als sie den Spatzen zum Beispiel Marienkäferpunkte aufgesetzt haben.
Doppelt so hoch wie eine Kathedrale
Das Innere des Münsters ist tatsächlich imposant: Wenn der Ausspruch gilt „so hoch wie eine Kathedrale“, so müsste es im Ulmer Münster heißen: „doppelt so hoch wie eine Kathedrale“. Ein Rundgang durch das Münster zeigt: Das eher schlichte Schiff steht im Kontrast zu den schmucken Vitralienfenstern. Ein Andachtsraum, Kerzenlichter, die Bitten der Gläubigen, für Gesundheit, für die Familie… Nicht anders als in anderen Kirchen.
Anders aber ist die Truhe, die plötzlich vor mir steht und worauf schlicht steht: „Spende für die neue Synagoge in Ulm“. Hier hat man auf die sonst üblichen allegorischen Frauenstatuen „Ecclesia“ und „Synagoga“, die oft in der mittelalterlichen Kirchenkunst personifiziert Christentum und Judentum symbolisieren, nach dem Schema „Beispiel und Gegenbeispiel“ paarweise gegenübergestellt, verzichtet. Hier reichen die Christen den Juden die Hand, zur Versöhnung, und spenden für die Errichtung einer neuen Synagoge. Beim Abendspaziergang durch die Stadt sehe ich auch diese, gibt es doch in Ulm, wie unsere Begleiterin erklärt, eine wachsende Gemeinde von Juden. Und eigentlich kommt man erst dadurch einem der wichtigsten Gebote des Christentums nach: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“
125 Jahre sind seit der Fertigstellung des Münsters vergangen, aber über 600 seit der Grundsteinlegung. Das Münster trägt noch an einigen Säulen die Zeichen dieser jahrhundertealten Geschichte: ein paar hundert Jahre alte Madonnen erinnern daran.
Ein bronzener sechs Meter hoher Erzengel Michael hängt unter der Orgelempore und starrt mit Metallblick auf den Altar, sein Schwert erhoben, sein Tritt auf der Schlange, die den Erdball zu umwinden versucht. Irgendwie befremdend wirkt er auf mich, unglaublich metallisch – das Internet bringt ans Licht: Die Statue ist nicht unumstritten, sie stellte den Mittelpunkt eines Kriegerdenkmals aus dem Ersten Weltkrieg dar und wurde von den Nationalsozialisten unter die Orgelempore gebracht. Diskussionen um das Behalten oder Entfernen der Statue scheint es, den Berichten der Lokalpresse zufolge, mehrere gegeben zu haben.
Vor dem Verlassen des Münsters fällt mein Blick noch auf ein Kuriosum, einen Schwarm Spatzen aus Ton, die nur auf ihren Käufer warten. Auch ein Plakat für den Auftritt der „Ulmer Domspatzen“, dem Kinder- und Jugendchor, auf den die Ulmer ebenso stolz sind wie die Wiener auf die Sängerknaben, ist in der Nähe angebracht.
Das Münster verlasse ich, um auf das Münster zu schauen. Nicht der Münsterturm, sondern die Terrassen des benachbarten Stadthauses werden mir die Perspektive von oben gewähren. Statt nur den Blick auf die Stadt hat man so den Blick auf Stadt und Münster.
Die Valentinskapelle
Neben dem Münster, das in seiner Größe alles überragt, liegt „im Schatten des Münsters“, wie ein Plakat ankündigt, eine 550 Jahre alte Kapelle: die Valentinskapelle. Und weil der Tag des heiligen Valentin noch nicht lange vorbei ist und ich noch eine Nachricht im Hinterkopf habe, dass sich die rumänisch-orthodoxe Kirche gegen den Valentinstag auflehnt, muss ich schmunzeln: denn hier bietet die Valentinskapelle der orthodoxen Gemeinde in Ulm einen Betort. Die Kapelle hatte bei ihrer Gründung den Mitgliedern einer Patrizierfamilie als Grabstätte gedient, wurde während der Reformationszeit profaniert, diente dann als Lager, kam Ende des 19. Jahrhunderts zur evangelischen Gemeinde – ebenso wie das Münster – und dient seit 1948 den orthodoxen Gemeinden in Ulm: serbisch, griechisch und russisch-orthodox.
Weiter soll es an die Donau gehen, den Turm irgendwo im Hinterkopf behaltend: Hier fließt die Donau schon sehr selbstbewusst und wird von Schwänen und Wildenten beschwommen, von Möwen und auch von Ulmer Spatzen überflogen. Ich drehe mich um, und hinter den Weiden, die sich noch nicht in viele blühende Kätzchen geöffnet haben, sieht man den spitzenartigen Turm des Ulmer Münsters.