Wie der legendäre Phönix hat sich diese Stadt immer wieder aus ihrer Asche erhoben, bemerkt Ekrem Gafar theatralisch. „Vielleicht wird dies wieder geschehen, es ist immerhin eine Hoffnung…“, fügt er leise an. Im Eingangsbereich der Moschee prangt das Emblem des Sultans in alter osmanischer Schrift: Abdul Medgid. Nach ihm ist auch die Stadt benannt: Medgidia. Der Herrscher hatte das zerstörte Karasu wieder aufbauen lassen, neu besiedelt, zu neuem Leben erweckt, nach 27 Jahren Verlassenheit. Dass hier ein bedeutendes militärisches Zentrum der Osmanen war, davon zeugen das islamische Gotteshaus, das immer noch genutzt wird - und die Ruine des Hammams, die unbeachtet ein paar Straßen weiter verfällt. Die Kuppel mit den runden Lichtluken lässt die einstige Pracht dieses Ortes nur noch schwach erahnen...
Ekrem Gafar empfängt uns am Brunnen, mit dem alle Gründergeschichten türkisch-tatarischer Siedlungen in der Dobrudscha beginnen: Zuerst wurde ein Brunnen gegraben. Essenziell ist er nicht nur für die Wasserversorgung von Mensch und Tier – die meisten Türken und Tataren befassten sich mit Viehzucht -, sondern auch für die rituelle Waschung, die der Islam vor dem Gebet vorschreibt. Der Brunnen ist Kondensationskeim jeder Zivilisation. Viele Ortsnamen in der Dobrudscha beginnen daher mit „Fântâna“ (Brunnen). Erst dann wird das Gotteshaus errichtet. So erklärt sich, dass die Abdul-Medgid-Moschee (1856-1860 erbaut) das älteste Gebäude der Stadt ist.
Der Historiker kramt nach dem Schlüssel, bereit, die glorreichen, glanzvollen Zeiten dieses Ortes vor unseren Augen aufzurollen. Medgidia ist eine der Etappen auf der sechsten Journalistenreise, organisiert vom Departement für interethnische Beziehungen an der Rumänischen Regierung (DRI), auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der nationalen Minderheiten in der südlichen Dobrudscha.
Im Wechsel von Zerstörung und Auferstehung
Tatsächlich war das Tal, in dem Medgidia liegt, schon lange vor der osmanischen Herrschaft über die Dobrudscha besiedelt. Funde einer Zivilisation reichen bis ins Paläolithikum zurück. „Schwarzes Wasser“ - Karasu – hieß die erste bekannte osmanische Ansiedlung, die an den Sümpfen des einst beschiffbaren Tals entstand und 1828 in den russisch-türkischen Kriegen komplett zerstört wurde. Bis der Reformer Abdul Medgid 1856 ihren Wiederaufbau beschloss. Das Interesse des Sultans begründete sich damit, dass auf dem Hügel Panaghit seit Jahrhunderten der größte Vieh- und Getreidemarkt des Balkans abgehalten wurde. Zweimal jährlich fand dort zudem ein Jahrmarkt für landwirtschaftliche Geräte und Gebrauchsgegenstände statt.
Die völlig neu geplante Stadt auf dem Schutthaufen des alten Karasu sollte ein Zuhause für die tatarischen Söldner werden, die aus dem Karasu-Tal für den Krimkrieg angeheuert worden waren. Hinzu kamen ca. 6000 aus der Krim geflüchtete Tataren, die zu Hunderttausenden die Halbinsel verlassen hatten, um auf dem Balkan eine neue Heimat zu finden; etwa 20.000 blieben in der Dobrudscha hängen.
Der Sultan zeigte sich den neuen Bürgern gegenüber großzügig: Sie erhielten Wohnhäuser, ein Stück Land und je nach Bedarf Raum für Läden und Werkstätten. Innerhalb weniger Monate wuchs die Zahl der Einwohner auf fast 20.000. Medgidia ist die erste Stadt des osmanischen Imperiums, die auf dem Reißbrett der Architekten entstanden war. Der Historiker Kemal Karpat hatte sogar den Originalplan entdeckt, ein Gitter aus geradlinigen Straßen und einförmigen Häusern.
Im Unabhängigkeitskrieg 1877-1878 wurde die Stadt erneut zerstört, die Einwohner flohen. Doch der Markt reorganisierte sich rasch, diesmal unter rumänischer Oberhoheit – und damit auch die Stadt. Ein Jahr später wurden bereits 300 Häuser mit ca. 1500 Einwohnern regisriert. Drei Jahre später entstanden das erste Spital und die erste Apotheke. 1884 wurden 2449 Einwohner verzeichnet. 1886 wird die dritte Schule eröffnet. Doch die Bevölkerung wächst moderat: 1903 sind es 2858 Bürger.
1883 findet die junge Stadt sogar in einem Science-Fiction Roman im Ausland Erwähnung: Die Haupthelden aus Jules Vernes „Keraban der Starrkopf“ bereisen die Dobrudscha und legen in Medgidia eine Rast ein.
Im Zuge des Ersten Weltkriegs wird Medgidia 1916 von den Bulgaren erobert und wieder weitgehend zerstört.
Erst im kommunistischen Rumänien läutet die Industrialisierung eine neue Blütezeit ein. Großunternehmen wie IMU Medgidia oder die Zementfabrik schufen tausende Arbeitsplätze. Die Bevölkerung wuchs rasch: von 6919 Einwohnern im Jahr 1948 auf 17.943 in 1956. Investiert wurde auch in Landwirtschaft, Viehzucht, Obst- und Weinbau. Weine aus Medgidia waren im ganzen Land und bis über die Grenzen hinweg bekannt.
Nach der Wende kam dann der Abstieg: die Fabriken wurden unrentabel, ausgeschlachtet, oder waren den Anforderungen des neues Marktes nicht gewachsen. Arbeitskräfte wanderten ab. Lebten 1992 noch 46.657 Menschen in Medgidia, waren es zur Volkszählung 2011 nur noch 39.780.
Stadt unter dem Halbmond
Bis heute ist Medgidia eine Hochburg der Muslime geblieben: Etwa 9500 Bürger – 22 Prozent der Bevölkerung – bekennen sich zum Islam, erklärt Ekrem Gafar. Je die Hälfte gehört der türkischen und – wie er selbst – der tatarischen Minderheit an. Auch muslimische Zigeuner gibt es.
Kein Wunder, dass ausgerechnet in Medgidia 1901 das einzige muslimische theologische Seminar des Landes eröffnet wurde (eine Vorgängerinstitution gab seit 1610 in Babadag), dem zahlreiche bekannte Gelehrte entsprangen. Ein Beispiel ist der erwähnte Historiker und Balkan-Experte Kemal Karpat, Sohn eines Imams aus Babadag, der hier studierte, bevor er nach Istanbul und später in die USA auswanderte, wo er an der Universität von Wisconsin lehrte und zwei Präsidenten im Weißen Haus beriet. Oder Etem Curt-Mola, der erste und einzige Großmufti der Dobrudscha, die damals bis ins heutige Bulgarien reichte. Kinder der Stadt sind auch Mufti Yusuf Murat, der Turkologe Gemil Tahsin, Professor an der Universität von Klausenburg/Cluj-Napoca und nicht zuletzt Ekrem Gafar, Historiker, Journalist und Autor mehrerer Bücher.
Das Vermächtnis des Sultans
Die Zedernholzsäulen der Abdul-Medgid-Moschee wurden einst mit dem Schiff aus dem Libanon über Istanbul bis nach Medgidia geliefert. Fenster und Türen waren aus demselben Holz, doch sie hielten dem Zahn der Zeit nicht stand, originalgetreue Nachbildungen befinden sich an ihrer Stelle. Unter den alten Reisstrohmatten, zerfleddert, doch aus Respekt im Original belassen, verbergen sich wertvolle Teppiche: Einer stammt von Süleyman Demirel, dem ehemaligen türkischen Präsidenten, der Medgidia und die Moschee zweimal besuchte. Der andere ist ein Geschenk des iranischen Ajatollahs und ehemaligen Staatspräsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani. Berühmte Besucher gab es auch in den letzten Jahren: 2006 beendet eine Delegation unter dem türkischen Justizminister Cemil Cicek ihr Programm mit dem Abendgebet in der Moschee. 2011 besuchte der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu Medgidia, nicht ohne eine Stippvisite in dem ehrwürdigen, denkmalgeschützten Gotteshaus einzulegen.
Eine charmante Geschichte rankt sich um eine Kerze, die im Ersten Weltkrieg einen deutlich sichtbaren Hieb abbekommen hat: Man erzählt sich, dass am 20. Oktober 1916, als die Bulgaren Medgidia eroberten, ein bulgarischer Soldat diese mit dem Bajonett aufspießen wollte. Daraufhin bedrohte ihn ein deutscher Offizier, Berater der Bulgaren, mit dem Gewehr und mahnte, er solle sich nicht an religiösen Dingen vergreifen.
Das muslimische Gesicht der Stadt ist unaufdringlich und diskret. Doch immerhin: jeder fünfte Einwohner ist Moslem. Auf dem Weg zum Hammam und der ehemaligen Imam-Schule begegnet der aufmerksame Beobachter mehreren Schildern „carmangerie musulman˛“, die auf Schlachtereien nach islamischem Ritus verweisen. Im Restaurant werden orientalisch gewürzte Gerichte und traditionelle türkische Speisen angeboten. Eine Zeitung berichtet von der Kranzniederlegung zu Ehren des türkischen Reformers Mustafa Kemal Atatürk durch den Bürgermeister, Vertreter der türkischen Minderheitenorganisation und des Nationalkollegs „Kemal Atatürk“. Am Freitag schallt der Ruf zum Gebet vom Minarett direkt gegenüber dem Rathaus. Und am Sonntag läuten, ebenso selbstverständlich, die Kirchenglocken.