111 Tagesetappen, insgesamt 2000 Kilometer lang ist eine Wanderung von Ulm an der Donau nach Czernowitz/Cern˛u]i in der heutigen Ukraine. Warum haben wir uns auf diesen Weg gemacht? Ist es der Reiz der östlichsten Stadt „Mitteleuropas“, der multikulturellen Hauptstadt des k. u. k Kronlandes Bukowina? Lockt die Literatur: Rose Ausländer, Paul Celan, Josef Burg, Alfred Margul Sperber, Immanuel Weissglas, Mihai Eminescu, Olga Kobljanska? Um 1900 erschienen hier 40 Tageszeitungen in verschiedenen Sprachen: Deutsch, Russisch, Polnisch, Rumänisch … Neugier auf die Stadt, in der die jüdische Bevölkerung den größten Anteil aller Glaubensgruppen stellte? Aus welchem Grund auch immer: Czernowitz fasziniert – und lockt!
Der Weg ist das Ziel. Deshalb suchten wir die schönsten Fußwege über die Schwäbische und Fränkische Alb, dann durch die Fränkische Schweiz, das Fichtelgebirge und das Vogtland. Immer in Kammnähe streiften wir durch das Erzgebirge, querten Elbe und Elbsandsteingebirge, bestaunten die Basaltkegel des Lausitzer Gebirges und genossen die Aussicht vom futuristischen Turm auf dem Jeschken.
Wanderparadiese
Einem berufstätigen Menschen ist es nicht möglich, 111 Tage Urlaub am Stück zu nehmen, deshalb musste die Wanderung an gut erreichbaren Orten wie Reichenberg, Ostrau, Poprad oder Kaschau gestückelt werden. Tschechien und die Slowakei sind wahre Wanderparadiese. Es gibt ein dichtes Netz zuverlässig markierter Wanderwege, dazu genaue Wanderkarten für das ganze Land. Übernachten kann man in einfachen Berghütten, in günstigen Familienpensionen oder auch in anständigen Hotels. Ein funktionierender Bus- und Bahnverkehr hilft beim Ankommen und Wegfahren. Gasthäuser mit guter Küche laden zur Einkehr ein. Dies alles ist kein Wunder, denn Wandern ist in den beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei die beliebteste Freizeitbeschäftigung.
Über das vom Waldsterben gezeichnete Isergebirge mit dem „Misthaus“ des Wanderpioniers Gustav Ginzel, Erfinder des Fernwanderwegs der Freundschaft Eisenach – Budapest, kamen wir ins Skiflugzentrum Harrachsdorf und stiegen hinauf ins Reich Rübezahls, in das Riesengebirge. An der Schneekoppe, früher mit 1603 Metern der höchste Berg der deutschen Mittelgebirge, wehte der starke Wind eine Wanderfreundin einfach um. Hatte Rübezahl seine Hand im Spiel? Umso mehr genossen wir die Gastfreundschaft in den Bauden, den geschichtsträchtigen Hütten. An schönen Sommertagen ist man im Riesengebirge nie allein, denn Lifte schaufeln Menschenmassen ins Gebirge. Weiter ostwärts ist es ruhiger. Wir begegneten nicht vertriebenen Sudetendeutschen, die unser Geschichtsbild korrigierten. In die Brauerei von Trautenau war Vaclav Havel, Schriftsteller, Dissident und später Präsident Tschechiens, verbannt. Wir genossen das Rübezahl-Bier.
Problemlose Grenzen
Eindrucksvoll die bizarren Wekelsdorfer und Aderspacher Felsenstädte, ruhiger dann der Weg durch das Adlergebirge, das Mettautal mit seinen architektonisch interessanten Städten Nachod und Neustadt a. d. M. Wir staunten über den vielfältigen Ackerbau in Polen, mit Pflanzen, die sonst in Europa kaum mehr angebaut werden: Buchweizen, Mohn, Hanf, Lein. Nach einem letzten landschaftlichen Höhepunkt im Altvatergebirge wanderten wir hinaus in die weite Senke der Oder. In den Mährisch-Schlesischen Beskiden ist Halbzeit auf dem Weg von Ulm nach Czernowitz. Endlich in den Karpaten angekommen!
Die offenen Grenzen ermöglichten uns problemlose Wechsel von Tschechien in die Slowakei, nach Polen und wieder zurück, in die Arwa, in die für ihren Käse bekannte Liptau, durch die wilde Karstlandschaft der nördlichen Liptau, wo Flüsse plötzlich versickern und an anderer Stelle wieder aus einem Loch in der Felswand hervorquellen. Dann die Entscheidung: Hochgebirge oder Mittelgebirge. Wir entschieden uns für das kleinste Hochgebirge der Erde, die Hohe Tatra mit dem höchsten aller Karpatengipfel, der Gerlsdorfer Spitze, 2655 Meter hoch. Abweichend von der unschwierigen Tatra-Magistrale wanderten wir meist in Schleifen, oft kettengesichert und ausgesetzt durch die Hohe Tatra, erstiegen den 2500 Meter hohen Rysy, den höchsten Berg Polens, und erlebten mit der immer noch ausschließlich durch Träger versorgten Rysy-Hütte eine der originellsten Berghütten überhaupt. Den Hüttenwirt trafen wir übrigens ein Jahr später mit Sportschuhen, kurzer Hose und T-Shirt im Frühjahrsschnee hoch oben am Matterhorn in der Schweiz!
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Günther Krämer, Geograph aus Ulm und Mitglied des Deutschen Wanderinstituts, führt seit 15 Jahren Wandergruppen durch die Karpaten. Begleitet und unterstützt wird er von seiner Frau Angelica, einer gebürtigen Rumänin aus Botoşani. Ziel ihres Projekts „Via carpatica“ ist ein „sanfter“ Tourismus, der Wanderern und Einheimischen nützt. In mehreren Beiträgen berichten sie über ihren Weg durch die Karpaten, über Wanderwege und die Möglichkeiten und Chancen eines hochwertigen Wandertourismus vor allem in den rumänischen Wald- und Ostkarpaten.
Links:
www.lustwandeln.eu
www.viacarpatica.eu
www.carpatroute.com