EuGH kippt zentrale Vorgaben der EU-Mindestlohnrichtlinie

Europäischer Gewerkschaftsbund: Bestimmungen für Angemessenheit der Mindestlöhne und Tarifabdeckung bleiben erhalten

Schild mit der Aufschrift „Cour de Justice de l'Union Européene“ vor einem Gebäude des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) | Foto: Wikimedia Commons

Luxemburg (dpa/ADZ) - Die EU hat bei der Festlegung von einheitlichen Standards für Mindestlöhne ihre Kompetenzen überschritten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg erklärte zwei Bestimmungen in der EU-Mindestlohnrichtlinie für nichtig. Dabei handelt es sich einerseits um Kriterien für die Festlegung und Aktualisierung der Löhne und andererseits eine Vorschrift, die eine Senkung der Löhne unterbindet, wenn sie einer automatischen Indexierung unterliegen. Gegen das 2022 von den EU-Staaten per Mehrheitsentscheidung beschlossene Regelwerk hatte Dänemark geklagt. Der Gerichtshof gab dem Land damit teilweise recht.

Dass der EU-Gesetzgeber Kriterien für die Festlegung der Mindestlöhne aufgeführt habe, sei ein unmittelbarer Eingriff in die Festsetzung des Arbeitsentgelts, urteilten die Richterinnen und Richter. Die Höhe der Löhne ist nach den EU-Verträgen jedoch Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Die EU darf mit Richtlinien lediglich beispielsweise Arbeitsbedingungen regeln. Das Gleiche gelte für die Vorschrift, die eine Senkung der Löhne unterbindet, wenn sie einer automatischen Indexierung unterliegen.

Kriterien für die Festlegung der Mindestlöhne (hauptsächlich in Art. 5 der EU-Richtlinie vorgesehen) wurden in der rumänischen Gesetzgebung durch den Regierungsbeschluss 35 vom 6. Februar 2025 umgesetzt. In diesem ist auch eine Berechnungsformel für die Ermittlung des nationalen Mindestlohns enthalten, welche Inflationsrate sowie die Entwicklung der Arbeitsproduktivität berücksichtigt, ob diese Formel nun erhalten bleibt ist unklar (bis ADZ-Redaktionsschluss gab es keine Stellungnahme der Regierung). In jüngsten Verhandlungen zum Mindestlohnniveau haben Gewerkschaften sowie weitere Unterstützer einer Erhöhung neben der Erwägung eines Lohnniveaus für einen angemessenen Lebensstandard auch auf die Einhaltung der EU-Richtlinie und gesetzliche Verpflichtungen, welche sich daraus ergeben, gepocht. Besonders PNL-Mitglieder der Regierung, wie Premier Ilie Bolojan oder Finanzminister Alexandru Nazare, haben sich wiederholt für das Einfrieren des Mindestlohns im kommenden Jahr ausgesprochen. 

Richtlinie muss nicht abgeschafft werden

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) begrüßte in einer Stellungnahme am Dienstag, dass der Gerichtshof die Gültigkeit der Richtlinie in ihren Kernbestimmungen bestätigt habe. Zwar wurde „Artikel 5 Absatz 2 – der die detaillierten Kriterien für die Bewertung der Angemessenheit gesetzlicher Mindestlöhne enthielt – für nichtig erklärt“, jedoch bestätigte der Gerichtshof übrige Bestimmungen der Richtlinie, „darunter Artikel 5 Absatz 1, der Mindestlöhne mit Angemessenheit in Verbindung bringt, mit dem Ziel, einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen“, heißt es in der EGB-Mitteilung. Außerdem bleiben demnach in Artikel 5 Absatz 4 vorgesehene Referenzwerte zur Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne enthalten, Grundlage hierfür sind 50 Prozent des Durchschnittslohns und/oder 60 Prozent des mittleren Lohns (das Lohnniveau bei dem die eine Hälfte der Beschäftigten mehr und die andere Hälfte der Beschäftigten weniger verdienen). „Diese Maßstäbe bleiben verbindliche Instrumente, um eine faire Festlegung des gesetzlichen Mindestlohns zu gewährleisten und sicherzustellen, dass Mindestlöhne Arbeitnehmer vor Erwerbsarmut schützen.“

Im Übrigen verpflichtet die Mindestlohnrichtlinie die Länder etwa weiterhin, auf hohe Abdeckungsraten von Tarifverträgen hinzuwirken. Der EuGH verneinte hier einen unmittelbaren Eingriff in das Koalitionsrecht, das ebenfalls in der Zuständigkeit der EU-Länder liegt. Die Bestimmung verpflichte die Mitgliedstaaten nämlich nicht, zu regeln, dass mehr Arbeitnehmer einer Gewerkschaft beizutreten haben.

Für Deutschland bedeutet das, dass das Land weiterhin einen Aktionsplan zur Steigerung der Tarifbindung vorlegen muss. Die Pflicht gilt nach der Mindestlohnrichtlinie, wenn weniger als 80 Prozent der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst werden. Deutschland hat das nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bisher noch nicht gemacht, obwohl es den Schwellenwert nicht erreicht. Dies soll den Angaben zufolge bis zum 31. Dezember geschehen. Es wurden bereits Stellungnahmen von Sozialpartnern eingeholt.
„Entgegen dem europäischen Trend ist die Tarifabdeckung in Deutschland in den letzten zwei Dekaden rapide gesunken, auf um die 50 Prozent“, sagte der Politikwissenschaftler Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Das sei dramatisch, der deutsche Gesetzgeber sollte hier unbedingt mehr tun, so Höpner. Dies könne er jedoch sowohl mit als auch ohne EU-Richtlinie.

Der Gewerkschaftsverband EGB fordert Mitgliedstaaten auf, ihre abwartende Haltung aufzugeben und mit der vollständigen Umsetzung der Richtlinie fortzufahren, „einschließlich der Anhebung der Mindestlöhne, um die Angemessenheitsmaßstäbe zu erfüllen“. Außerdem wird die „Verabschiedung nationaler Aktionspläne zur Erhöhung der Tarifbindung auf 80 Prozent“ gefordert. „Die Regierungen verfügen nun über vollständige Rechtssicherheit – die Richtlinie ist solide und muss umgesetzt werden“, so der EGB.

Keine direkte Auswirkung auf deutschen Mindestlohn

Auf die Höhe des Mindestlohns in Deutschland hat die Entscheidung keine direkte Auswirkung. Die Bundesregierung hatte jüngst beschlossen, dass der derzeitige Mindestlohn in Höhe von 12,82 Euro zum 1. Januar auf 13,90 Euro pro Stunde und ein Jahr später um weitere 70 Cent auf 14,60 pro Stunde steigt. 

Unklar ist weiterhin, ob und inwieweit die bereits seit elf Jahren geltenden nationalen Regelungen im Mindestlohngesetz an EU-Recht angepasst werden müssen. Im Zusammenhang mit der EU-Mindestlohnrichtlinie gab es seit Längerem die Forderung, dass Arbeitgeber mindestens 60 Prozent des mittleren Bruttolohns in Deutschland zahlen. Die Mindestlohnrichtlinie sieht vor, bei der Bewertung der Angemessenheit des Lohns solche Referenzwerte zugrunde zu legen. Bei Verwendung des mittleren Lohns hätte der Mindestlohn in Deutschland nach Gewerkschaftsangaben eigentlich auf mehr als 15 Euro angehoben werden müssen. 


Deutsche Arbeitgeber: EuGH-Urteil zu Mindestlohnrichtlinie „übergriffig“

Berlin/Luxemburg (dpa) - Die deutschen Arbeitgeber reagieren auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur EU-Mindestlohnrichtlinie mit heftiger Kritik. „Der EuGH hat ein übergriffiges Urteil gefällt und weite Teile der Richtlinie bestätigt“, monierte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter. Jetzt müsse die Bundesregierung weitere EU-Eingriffe in die Sozialpolitik abwehren. Zugleich betonte er, das deutsche Mindestlohngesetz könne unverändert bleiben.