Über Arbeit, Migration und Reindustrialisierung

Rumäniens Wirtschaftsmodell der vergangenen zwei Jahrzehnte hat ausgedient

Symbolfoto: pixabay.com

Interessantes aus der rumänischen Volkswirtschaft berichtet wieder einmal die Bukarester Fachzeitung „Ziarul Financiar“. Es gäbe, so das Blatt, ausländische Unternehmen in zahlreichen west- und zentralrumänischen Städten, beispiels-weise in Temeswar/Timişoara, Arad, Klausenburg/Cluj, Dej, Hermannstadt/Sibiu und Kronstadt/Braşov, die inzwischen an einem derart starken Arbeitskräftemangel leiden, dass sie aus Süd- und Ostrumänien hunderte Arbeiter anwerben müssen, für deren Unterkunft bezahlen und dabei bis zu 2,5 mal höhere Lohnkosten in Kauf nehmen. Das Phänomen ist seit der wirtschaftlichen Erholung um 2012/2013 vor allem im Banat bekannt: Arader Fabriken beschäftigen Männer und Frauen aus dem armutsgebeutelten Schiltal/Valea Jiului im Süden des Kreises Hunedoara, in Temeswar arbeiten zahlreiche vormals Arbeitslose aus den Kreisen Mehedinţi, Gorj und selbstverständlich Karasch-Severin/Caraş-Severin. Die in Großsanktnikolaus/Sânnicolau Mare seit mehr als einem Jahrzehnt für Vollzeitbeschäftigung sorgenden ausländischen Fabriken haben unlängst beim Temeswarer Arbeitsamt nachgefragt, ob sie serbische Staatsbürger beschäftigen dürfen.

Das dürfen sie aber nicht, die Behörde verweigerte die Erlaubnis mit der fragwürdigen Begründung des Amtsleiters, der zu bewältigende Verwaltungsaufwand sei zu groß (sic!), und außerdem gehöre Serbien nicht zur Europäischen Union. Dass das Unternehmen eigentlich schnell seine Maschinen abbauen, sie beispielsweise im benachbarten serbischen Kikinda wieder aufbauen und in Großsanktnikolaus eine leere Werkhalle und mehrere hundert Arbeitslose hinterlassen kann, das scheint einem rumänischen Beamten nicht einzuleuchten. Das Beispiel der genauso schnell geschlossenen wie eröffneten Nokia-Niederlassung in Jucu bei Klausenburg liegt wohl zu lange zurück, als dass man sich noch daran erinnern und die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen könnte.

Strukturprobleme

Das sind die Tatsachen. Sie weisen auf mehrere Strukturprobleme der rumänischen Volkswirtschaft und des rumänischen Entwicklungsmodells hin. In erster Linie ist eindeutig festzustellen, dass die ab 2000 einsetzende und (fast) ausschließlich vom ausländischen Kapital betriebene Reindustrialisierung des Landes aus einheimischer Sicht nur mäßige und regional unausgeglichene Erfolge erzielt hat. Zwar sind Industrieproduktion und Exporte nach 2000 in einem für die Staaten Mittel- und Osteuropas beeindruckenden Rhythmus gestiegen, die Reindustrialisierung beschränkt sich jedoch auf West- und Zentralrumänien. Von den mit beträchtlichem Aufwand aufgezogenen Industriestädten Süd- und Ostrumäniens konnten sich nur Piteşti (durch die erfolgreiche Dacia/Renault-Story), Ploieşti (durch die Erdölindustrie) und teilweise und nur mit einer gewissen Portion Glück Craiova behaupten. Die Ford-Investition im ehemaligen Daewoo-Werk von Craiova stand vor allem während der Wirtschaftskrise auf der Kippe; eine mittel- und langfristige Existenzgarantie gibt es für das Ford-Werk in Oltenien noch nicht, trotz des jüngst angekündigten neuen Modells, das ab Ende 2017 dort gebaut werden soll.

Und da wären noch einige der Flaggschiffe der sozialistischen Planwirtschaft zu erwähnen: Galatz/Galaţi zum Beispiel, eine heruntergekommene Stadt, in der das ehemals grandiose Stahlwerk zurzeit bei nur 25 Prozent seiner Kapazität arbeitet und von der schweren Krise der europäischen Stahlindustrie gekennzeichnet ist. Dann das südlichere Brăila, dem es noch schlimmer als der moldauischen Nachbarstadt geht, oder selbst die Universitäts- und Kulturstadt Jassy/Iaşi, die erst jetzt von ausländischen Investoren entdeckt wird, vor allem aus der IT-Branche, weil sie im Vergleich vernünftige Hochschulen hat und dazu sprachbegabte junge Menschen.

Wirtschaftsstarker Westen, wohlhabende Hauptstadt

Das alles bedeutet nichts anderes, als dass – sich selbst überlassen, dem Fremdkapital ausgesetzt und aus den Fesseln der staatlichen Zentralplaner befreit – die rumänische Volkswirtschaft in jene territoriale Gliederung zurückgefallen ist, die sie bereits vor der Machtübernahme der Kommunisten gekannt hat. Nämlich ein im Vergleich deutlich wirtschaftsstärkerer, weil industrialisierter Westen, eine zu wohlhabende Hauptstadt, die für die wirtschaftliche Verödung ihres Hinterlandes verantwortlich ist, und weite Teile des Südens und des Ostens in einer wirtschaftlichen Rückentwicklung begriffen, die mit dem Zusammenbruch der staatlichen Industriekolosse und der Auflösung des landwirtschaftlichen Genossenschaftsbesitzes zusammenhängen, aber vor allem mit der fehlenden ökonomischen Bildung breiter Bevölkerungsteile.

Eine kluge Regierung hätte nach 1989 vieles tun können, um diese Prozesse rechtzeitig zu bremsen. Eine Autobahn von Jassy nach Klausenburg, eine von Kronstadt nach Bacău und eine von Bukarest nach Jassy, eine Donaubrücke zwischen dem Großraum Galatz-Brăila und dem Kreis Tulcea, eine Autobahn von Bukarest nach Temeswar über Craiova und Turnu Severin, eine Schnellstraße von Jassy nach Suceava, alles gebaut bis spätestens 2010, hätten in der Moldau und in Oltenien für einen beeindruckenden Wachstumsschub gesorgt und für die so oft beschworene Einheit des Landes mehr bedeutet als alle Politiker-Reigen zum 24. Januar.

Indes weisen die arbeitsbedingte Migration im Binnenraum, der hohe Mangel an Fachkräften in Westrumänien, die überall fehlenden Berufsschulen und die massive Auswanderung der Fachkräfte in vergangenen Jahren auch darauf hin, dass in der nahen Zukunft das demografische Problem des Landes akut zu werden droht. Dass die Menschen weiterhin aus den ausweglosen Regionen im Osten und Süden wegziehen werden, entweder in die Hauptstadt oder in den Westen, sei es nun der Westen des eigenen Landes oder der des Kontinents. Selbst größeren Städten wie zum Beispiel Galatz, Brăila, Craiova oder Bacău droht der demografische Kollaps, wenn man bedenkt, dass zwischen 1992 und 2011 von den Großstädten des Landes allein Klausenburg und Temeswar kaum Bevölkerungsverluste verzeichneten, Galatz zum Beispiel hat in dieser Zeitspanne etwa 75.000 Einwohner verloren. Gesprochen wird darüber jedoch kaum, ab und zu schlagen die Demografie-Spezialisten des Statistikamtes oder der Geografiefakultäten im Land Alarm, es gibt dann die eine oder andere Zeitungsmeldung und das war’s. Heute in zehn oder in fünfzehn Jahren wird es wohl anders aussehen. Und für manches wird es auch zu spät sein.

Neues Modell muss her

Zum Schluss sei am Rande noch Folgendes bemerkt: Das von der politischen Elite angewandte Entwicklungsmodell der ökonomischen Abhängigkeit vom Westen, das Rumänien zu einer verlängerten Werkbank ausländischer Großkonzerne machte, dabei auf niedrige Löhne bei einer vergleichsweise gar nicht so schwachen Arbeitsproduktivität (wie die Verfechter dieses Modells ständig argumentieren) setzte und das einheimische Kapital zugunsten des ausländischen (fast) vollkommen vernachlässigte, stößt langsam an seine Grenzen. Zum einen kann es für nachhaltiges Wachstum und für langfristigen Wohlstand nicht sorgen, zum anderen hält es die rumänische Volkswirtschaft in einer mitunter gefährlichen Abhängigkeit von Entscheidungen, die anderswo getroffen werden, und zwar nicht, wie viele annehmen, in westeuropäischen Regierungskanzleien, sondern in den Büros multinationaler Großkonzerne. Ein neues Modell müsste also her, welches Rumänien selbstverständlich an internationale Wirtschaftskreisläufe angeschlossen hält, aber das einheimische Kapital auf ein stärkeres Fundament setzt. Polen zum Beispiel hat es in den vergangenen Jahren erfolgreich vorgemacht, man müsste nur genauer hinschauen. Das Wahljahr 2016 bietet dafür die bestmögliche Gelegenheit.

Eine Betrachtung von Dr. Dan Cărămidariu