Arbeit an der Atmung statt Denkübungen

ADZ-Gespräch mit der Schweizer Heilpädagogin Johanna Reber über den Alltag mit Kindern der Waldorfschule Rothberg

Johanna Reber gibt Tipps im Cellospielen und arbeitet mit Orchestermusikern aus Hermannstadt zusammen, die den Roma-Kindern Töne auf Klarinette, Violine und Flöte beibringen. Foto: www.schule-romakinder.ch

Johanna Reber ist gebürtige Schweizerin, ausgebildete Pädagogin und seit viereinhalb Jahren in Rumänien wohnhaft. Sie lebt in Hermannstadt und arbeitet als Lehrkraft an der Hans-Spalinger-Waldorfschule Rothberg/Roșia. Interview-Anfragen sind meist rasch und gerne beantwortet. Johanna Reber reagierte mit Staunen auf das Angebot und wusste anfangs nicht, ob und wie ein Interview zu bestreiten wäre. Sie bat um Zeit zum Nachdenken und schickte per E-Mail ein paar Zeilen voraus: „Seit meinem zweiten Schuljahr kreuzten immer wieder Menschen mit besonderen Bedürfnissen (behinderte Menschen) meine Wege. Das etwas Andere schien mich in einer gewissen Art und Weise zu faszinieren, in mir etwas zu bewegen und veranlasste mich, Kontakte zu knüpfen. Dies hat wohl ein Stück weit meine Ausbildungswege geprägt: Psychiatriepflege oder Kindergärtnerin? Ich entschied mich vorerst für das Letztere.“

Sie singt im Hermannstädter Bachchor mit und spielt Cello. Nicht öffentlich, sondern für und mit Kindern der Rothberger Waldorf-Schule. Eine ausschließlich von Kindern der lokalen Roma-Siedlung besuchte Bildungseinrichtung am Rand der regionalen Öffentlichkeit. Johanna Reber hat Empathie für die kleinen Verlierer des großen Sozialbeckens übrig und kein Interesse daran, selbst im Vordergrund zu stehen. Ihr eigenes Porträt behält sie für sich. Dafür stellt sie den Respekt für diejenigen Menschen, mit denen sie ihre Aufgaben teilt, in die erste Reihe.

Auffallend ist ihre Wortwahl „Unterdorf“, die feinfühlig auf die Misere des Alltags der Roma hinweist. Johanna Reber springt in eine soziale Bresche, um die sich wenig Menschen kümmern. „In einer abgeschiedenen Gegend der Schweiz arbeitete ich nach der Ausbildung während sieben Jahren als Wanderkindergärtnerin, und da sprach noch niemand von Integration. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass alle Kinder den Kindergarten und die Schule besuchten, auch behinderte Kinder.“ Die hier angeführten Fragen und Antworten hat Klaus Philippi aufgezeichnet.


Was genau darf man sich als eine Person, die noch nie eine Waldorfschule besucht oder von innen heraus kennengelernt hat, darunter vorstellen?

Waldorf-Pädagogik zielt nicht darauf ab, die Entwicklung der Schulkinder auf dem Erfahrungsweg intellektueller Leistungen zu fördern. Im Vordergrund steht vielmehr das Erleben praktischer Erfolge. Der Lernprozess geschieht durch Bewegung, Zeichnen, Geschichten und gestalterische Elemente wie Werken, Gartenarbeit, Spielen, Singen und Musik. Ganz wichtig ist immer die Abstimmung auf die entsprechenden Entwicklungsphasen der Kinder. Im ersten Schuljahr lernt ja das Kind eigentlich noch atmen und eine Regelmäßigkeit in seiner Atmung zu finden – kein Sonderaspekt in Einzelfällen an der Waldorfschule, sondern ein generelles Entwicklungsbedürfnis. Wenn da in den ersten zwei Jahren ein Zuviel an direkter intellektueller Leistung verlangt wird, verkennt man oftmals einen wichtigen Sinn und Zweck von Grundschule. Weil aber in allen Fächern vieles eine rhythmische Abfolge hat, kommt das Kind durch regelmäßige Atmung in eine gewisse Ruhe und Ausgeglichenheit.

Wie geben die Kinder einem das zurück? Inwieweit lässt sich an ihrem Ausdruck ablesen, ob das regelmäßige Atmen ihnen hilft?

Als Lehrperson suche einen einfühlsamen Blick auf die Kinder. Welche augenblickliche Befindlichkeit beobachte ich in ihren Gesichtern? Was ich gerne sage: Für mich ist es am schrecklichsten, wenn ich am Ende eines Schulvormittags ein Kind mit Handreichen verabschiede und seine Hände kalt sind. Dann muss ich mir eingestehen, dass etwas schief gelaufen ist.

Auf welche klaren Argumente bist Du gestoßen, als es für Dich zur Debatte stand, entweder nach Italien oder Rumänien zu gehen?


Ja, wie soll ich das denn jetzt sagen? (hält kurz inne). Ich glaube, ich habe es schon bewusst gegen- und miteinander abgewogen. Rumänien war mir viel weiter weg als Italien, wo ich einen näheren Kontakt zur Sache finde. Aber Italien hat eine ganz andere Geschichte, eine andere Entwicklung durchlaufen als Rumänien. Zum Zeitpunkt meiner Frage nach einem von beiden Ländern war Italien in Sachen Psychiatrie und Integration viel fortgeschrittener. Darum habe ich ausdrücklich beschlossen, nach Rumänien zu ziehen.

 

Worin besteht der Unterschied zwischen einer klassischen pädagogischen Ausbildung und dem Profil schulische Heilpädagogik, das Du dir erarbeitet hast?


Ich habe eine klassische Ausbildung absolviert. Im Hinblick auf die Zeit nach der Ausbildung war mir aber wichtig, das Klassische mit dem anderen verbinden zu können. Ich wollte eine klassische Grundlage und habe mir alles Zusätzliche durch Modulausbildung und Kurse angeeignet.

 

In welchem Verhältnis zueinander stehen das gedankliche Lernen und die Entwicklung sozialer Fähigkeiten?


Das Gedankliche wird nicht vernachlässigt, nein, aber es wird bei den Kindern auf dem Weg von Bildhaftigkeit und Vorstellungen geweckt.

 

Was für ein Gefühl des Miteinanders entsteht unter den Kindern der Waldorfschule Rothberg?


Sie haben eigentlich ein sehr starkes Gefühl füreinander. Ich finde es wichtig und versuche immer auch, das in Bahnen zu lenken. Natürlich sind die Familienclans der Kinder sehr stark. Die eine Familie mit einer anderen zusammenzufügen, ist sehr heikel. Es sind einfach Spannungen da zwischen den einzelnen Familien, oft sogar innerhalb einer Familie. Das wirkt sich auch auf den Schulalltag aus.

 

Welchen Wert legst Du auf regelmäßige Treffen mit den Eltern?


Das ist sehr schwierig. Einmal im Monat biete ich ein Elterncafé an, und das letzte Mal beispielsweise hat keine einzige Person daran teilgenommen.

 

Kein einziges Elternteil, bei insgesamt 130 Schülern?


Nein, niemand. Manchmal kommt nur eine Mutter allein, was auch sehr schön sein kann, weil wir dann eine gute Gesprächsstunde miteinander verbringen. Bei anderen Gelegenheiten schauen bis zu sieben oder acht Personen vorbei. Ich jedenfalls gehe alle vierzehn Tage ins Unterdorf, schaue persönlich vor Ort bei Familien vorbei und begegne ihnen auf der Straße.

 

Man möchte meinen, dass Eltern in so einer Situation nicht wie im aufgesetzten schulischen Rahmen, sondern tatsächlich unmittelbar kommunizieren und anders ansprechbar sind!


Genauso habe ich es auch in der Schweiz erlebt. Es erinnert mich immer an die sperrigen Gegebenheiten. Das kann ich verstehen. Aber da sind wir als Schule gefordert: Was können wir anbieten, damit Beklemmung sich nach und nach lösen kann? Und die am leichtesten zu befahrende Schiene helfender Maßnahmen sind eben die Kinder.

 

Wie erlebst Du Rumänien als eine aus der Schweiz kommende Person, wo man doch hierzulande zumeist ein stark protestantisch-reformiertes und teilweise katholisches Bild der Schweiz vor Augen hat? Betritt man ein beliebiges Dorf in Siebenbürgen, ragen nicht selten fünf Kirchtürme ebenso vieler verschiedener Konfessionen in den Himmel.


Ich habe nie einen sehr engen Bezug zur Kirche gehabt, auch nicht zur reformierten, die doch die Kirche meiner Kindheit war. Viel lieber ging ich mit meinem Großvater in die katholische Messe. Das hat nichts mit irgendwelchen Hintergründen von Kirche zu tun, sondern mit dem, was da war – Gerüche und Bewegung haben mich irgendwie fasziniert. Ich habe mich nicht auf eine bestimmte Kirche ausgerichtet.

 

Meine Frage zielt eher darauf, dass der Alltag der Schweiz konfessionell vermutlich weniger bunt gemischt ist als in Rumänien, einem Land mit deutlichen Spuren archaisch-orthodoxen Lebens...


Das stimmt. In meiner Arbeit sehe ich mich mit Eigenheiten der orthodoxen Kirche konfrontiert, weswegen Fragestellungen aufkommen, die meine Aufgabe erschweren, was aber auch zu spannenden Auseinandersetzungen und Gesprächen mit den Schülern führt. Es gibt Dinge, da äußere ich mich, und es gibt Dinge, die lasse ich.

 

Zu welchen Kindern und Klassengängen vom Kindergarten bis einschließlich der 8. Klasse an der Waldorfschule Rothberg hast Du täglichen Unterrichtskontakt?


Meine Arbeit und meine Unterrichtsangebote finden grundsätzlich im Kindergarten statt, seit einiger Zeit auch in der Einschulungsklasse und in sämtlichen Altersstufen bis hin zum 8. Schuljahr. Selten unterrichte ich ganze Schulklassen. Die Schüler kommen entweder einzeln oder in kleinen Gruppen zu mir. Meine Angebote bestehen zum einen aus therapeutischer Unterstützung und zum anderen Teil aus musikalischen Projekten, die von vielen Kindern sehr gemocht werden, weil sie eine kulturelle Begabung dazu mitbringen und folglich in ihrem Element sind.

 

Europa hängt in der Schwebe fest. Separatistische Töne werden immer stärker, Menschen stehen für ihr eigenes Heimatland ein und vernachlässigen den Blick für Bedürfnisse ihrer Nachbargesellschaften. Wir stehen vor einem Überraschungspaket: ein Losentscheid gibt Namen vieler kleiner Stationen an, die wir nicht mögen und trotzdem durchlaufen müssen, auf dem anderen Zettel stehen Buchstaben großer Ziele, die uns von weither zuwinken. Auf welches Losglück setzt Du?


Auf die vielen kleinen Stationen, ganz klar!

 

Und deiner Meinung nach ist es gar nicht so wichtig, sich auf ein großes Ziel zu definieren, gerade eben weil es schwer zu beschreiben ist?


Das bewundere ich hier in Rumänien, dass es so viele Initiativen von Menschen gibt, die im Kleinen wirken, nicht aufgeben und dranbleiben, obwohl ihnen immer wieder große Steine in den Weg gelegt werden. Davor habe ich großen Respekt. Wenn ich nicht in diese Richtungen denken oder mich nicht auf diesen Weg begeben würde, wäre ich nicht mehr in Rumänien. Sooft ich mit einem Kind arbeite, gehe ich nicht davon aus, dass gerade jetzt etwas geschehen und von einer Stunde zur nächsten weitergehen muss. DASS es überhaupt geschieht, das ist das wirklich Wertvolle.
Natürlich würde ich das nicht mehr tun, wenn ich als Einzige in dem Bereich übrig bliebe. Aber dadurch, dass ich viele Menschen kennengelernt habe, fühle ich mich getragen und nicht alleine.

 

Was für heilende Aspekte hat es denn eigentlich mit der anfangs von Dir erwähnten Atmung auf sich?


Die Kinder an der Waldorfschule Rothberg fühlen sich oft unwohl, wenn sie beispielsweise ein kurzes Gedicht rezitieren sollen. Sie geraten ins Stottern, bleiben mittendrin stecken und verirren sich in eine Erwartungshaltung, die ihren Körper lähmt. Deswegen ist es so wichtig, alles mit Rhythmus zu verbinden. Nach meiner Erfahrung ist reines Auswendiglernen und Aneinanderreihen von Wörtern nicht sehr hilfreich. Probiert man es jedoch mit rhythmischem Sprechen, pendelt sich eine gesunde Atmung ein, die befreiend auf den gesamten Körper wirkt. Einmal habe ich es erlebt, dass alle Schüler einer Unterrichtsgruppe nach einer Arbeitsstunde ohne Ausnahme plötzlich auf Toilette mussten. Ein besseres Indiz dafür, dass Spannungen erfolgreich abgebaut werden, kann es kaum geben.