Mehrere Jahrestage erinnern 2013 an die Schattenseiten und großen Zäsuren der jüngeren europäischen Geschichte: die Machtergreifung Hitlers jährte sich vor wenigen Tagen zum 80. Mal; vor 75 Jahren fand der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland statt, vor 70 Jahren die Schlacht von Stalingrad. Auch wenn seither Jahrzehnte vergangen sind und Europa sich nun um eine gemeinsame Zukunft bemüht, sind Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder Demagogie noch lange nicht passé. Es gibt auf dem alten Kontinent Länder, wo rechtsradikale Parteien von der Krisenzeit profitieren und an die Macht gewählt werden, wo Nazis als Helden gefeiert werden, wo Holocaust-Leugner politische Funktionen einnehmen. Die Generation der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs schwindet, der Abstand zu den Ereignissen wächst. Sind die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts vergessen? Nein, denn am 27. Januar dieses Jahres, dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen (1945), nahmen nicht nur Überlebende des Kriegs und Vertreter der Politik an der Gedenkveranstaltung im polnischen Oswiecim teil. Auch die „dritte Generation“ war präsent und ehrte die Opfer des Nationalsozialismus.
Junge Europäer wollen Verantwortung übernehmen und die Erinnerung wachhalten. So beispielsweise eine Gruppe von 21 Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten aus Deutschland, Polen, Belarus, Armenien, der Ukraine, der Schweiz, Österreich, Litauen, Russland, Rumänien und Tschechien, die sich Ende Januar in Oswiecim getroffen hat, um sich mit dem Thema Holocaust auseinanderzusetzen, mit ehemaligen KZ- und Ghetto-Häftlingen zu sprechen, der Wahrheit ohne Beschönigung und Vorurteil ins Auge zu schauen und sie mittels Presseberichten in die Welt zu tragen. Der Titel dieser bereits vierten Internationalen Begegnung, die von dem Maximilian-Kolbe-Werk e. V. Freiburg veranstaltet wurde, lautet „Nahaufnahme – Damit die Erinnerung überlebt“. Im Mittelpunkt steht dabei „der Kontakt von Mensch zu Mensch“, ein Leitsatz für das Kolbe-Werk, das seit vierzig Jahren im Sinne der Völkerverständigung agiert und Hilfe für die Überlebenden von KZ und Ghettos leistet.
Tiefste Menschlichkeit und Selbstlosigkeit hatte auch der Namensgeber des Werks, der Franziskaner Minorit Maximilian Kolbe (1894-1941) bewiesen, als er in Auschwitz für einen Mithäftling in den Hungerbunker und somit in den Tod gegangen war.
Auschwitz steht als Symbol für das schrecklichste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte: für die Schoah, in der ein Drittel des jüdischen Volkes vernichtet wurde, für das Ermorden von Sinti und Roma, Schwerstbehinderten, Homosexuellen, politischen Häftlingen; für die entwürdigende Unterscheidung zwischen ‚hochwertigen’ und ‚minderwertigen’ Menschen; für Überlegenheitsfantasien der Täter und Passivität der Mitläufer; für das Morden als Fließbandarbeit und Industriezweig. „Vor 68 Jahren war hier das größte Grauen gerade zu Ende gegangen. Das ist heute für mich sehr real geworden”, sagt der 21-jährige Georg Taubitz aus Kiel nach der Gedenkveranstaltung in Oswiecim und den zahlreichen Gesprächen im Rahmen der Internationalen Begegnung.
Sechs Zeitzeugen aus Polen, der Ukraine, Litauen und Russland schilderten hier ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Terrorregime. Sehr schnell verließen ihre Berichte das Gebiet der „kalten“ Informationen und der Klischees, die man aus Büchern und Filmen längst kennt. Erschütternd, schmerzhaft, unmittelbar erfuhren die jungen Zuhörer, wie der „Tod als Alltag“ aussah. „Es war eine andere Welt, freie Menschen können das nicht verstehen“, betont der ehemalige Auschwitz-Häftling Jacek Zieliniewicz (87). Die Arbeit war hier zugleich Vernichtungsmethode und Geschäft: Das KZ funktionierte quasi als „SS-Unternehmen“, indem Häftlinge gegen Geld an verschiedene Firmen „ausgeliehen“ wurden, wo sie meistens bis zur Erschöpfung arbeiten mussten. Zu weiteren Todesursachen wie Krankheit oder Hunger kamen haarsträubende medizinische Experimente hinzu, in denen Menschen als Versuchskaninchen missbraucht wurden. Selbst die Vernichtung in den Gaskammern erfolgte oftmals auf Kosten der Opfer, die ihre Fahrtkarten nach Auschwitz eigenhändig bezahlen mussten – für die Todesfabriken gab es kein eigenes Budget, sie waren selbsttragend.
Was nach dem qualvollen Tod durch Zyklon B blieb, wurde verwertet: Menschenasche als Düngemittel, Menschenhaare (im „Wert“ von etwa 50 Pfennig das Kilo!) als Innenfutter für Matratzen, Zahngold als begehrte Einkommensquelle. „Das Lagerorchester musste Strauß-Walzer spielen, während Menschen zum Krematorium gingen“, erzählt Jacek Zieliniewick, während er die Gruppe auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau begleitet. „Uns wurde gleich bei der Ankunft klargemacht, dass unser einziger Weg zur Freiheit durch den Schornstein führte. Trotzdem haben wir überlebt. Wir waren nicht besser oder schlechter als diejenigen, die gestorben sind. Wir hatten nur Glück.” Auch der 80-jährigen Zdzislawa Wlodarczyk läuft ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie sich an die Kinderbaracken erinnert: „Jedes Mal, wenn ich hierher komme, höre ich die Schreie, sehe ich vor Augen die Menschen zum Krematorium gehen. Der Himmel war rot vor Rauch, den abstoßenden Geruch kann ich nicht vergessen.“
Ob menschliche Würde in der Hölle noch möglich war? Ob Großzügigkeit, Güte, Mitleid noch denkbar blieben, wo Menschen zu Nummern wurden? Die Ausstellung „Labyrinthe“ des ehemaligen Auschwitz-Häftlings Nr. 432, Marian Kolodziej (1921-2009), lässt hoffen. Die Grafiken des Künstlers sind erst in den neunziger Jahren nach langem Schweigen entstanden und thematisieren die totale Entmenschlichung im Konzentrationslager, „die Vernichtung der zwischenmenschlichen Beziehungen“, aber auch die Würde derer, die trotz allem die Kraft fanden, Menschen zu beiben. „Die Internationale Begegnung war ein Treffen dreier Generationen, die sich bis vor Kurzem nicht gekannt haben“, so Jacek Zieliniewick. „Nach wenigen Tagen sind wir Freunde geworden. Frieden, Freundschaft und Freiheit – es kostet viel, diese drei Begriffe zu verwirklichen, aber es rettet die Zukunft. Das ist der Auftrag der jungen Generation.“ Der zweite Teil des Projekts „Nahaufnahme – Damit die Erinnerung überlebt“ findet im März in der Gedenkstätte Ravensbrück statt.