Dieses längst vergangene Gespräch fand ich in meinem Czernowitz-Archiv. Es ist eines, das so nicht wiederkommt: Edi Weissmann, der Cellist, starb vor drei Jahren. Götz Teutsch, der Initiator des Philharmonischen Salons, wollte im vorigen Jahr im Kammermusiksaal der Philharmonie in Berlin einen ebensolchen musikalisch-literarischen Nachmittag mit Werken von Clara und Robert Schumann veranstalten, doch Corona machte einen Strich durch die Rechnung.
Sie sind in Hermannstadt/Sibiu in Siebenbürgen, inmitten der Karpaten, im 2. Weltkrieg geboren worden, gingen dort zur Schule, doch mit 16 Jahren schickten Ihre Eltern Sie auf ein Musikgymnasium nach Bukarest, weil Sie besessen vom Cellospiel und vom Musizieren waren. Wo haben Sie Cello studiert, und wo haben Sie Edi Weissmann kennengelernt?
Geboren bin ich in Hermannstadt, meine Familie, die Familie Teutsch, sind Urhermannstädter. Der Bischof Georg Daniel Teutsch war mein Urgroßvater, der andere Bischof, der Friedrich Teutsch, war mein Großonkel. Als ich ganz, ganz klein war, ist mein Vater, noch vor meiner Kindergartenzeit, nach Reps versetzt worden. Das ist ein kleiner Marktflecken zwischen Kronstadt und Schäßburg. Er ist als Arzt dorthin bestellt worden, und die ganze Familie ist nachgezogen. Für uns Kinder war das ein Segen, in dem Ort gab es kein Auto, keine asphaltierte Straße, man konnte herrlich spielen und Gärten gab es rundherum. Für uns Kinder war es schön, doch für die Eltern ein Alptraum. Wir hatten Schweine, Hühner und Misthaufen, alles, was den Leuten heute abgeht.
Mein Musiklehrer im Gymnasium in Schäßburg aber meinte: „Hier in dem Gymnasium hast Du nichts verloren, Du bist Cellist von Kopf bis Fuß, Du musst das richtig lernen. Das kannst Du nur in Bukarest oder Klausenburg“. Bukarest war dann doch einen Zacken besser, so bin ich nach Bukarest in die Schule gegangen.
Wie sind Sie dazu gekommen, das Cellospiel zu erlernen, und dann sogar zu studieren?
Naja, das ist eine ganz lustige Geschichte. Mein Vater war Arzt. Er hatte einen Patienten, der nicht bezahlen konnte. Mein Vater hat immer gesagt, wenn die Patienten gefragt haben, was sie zu zahlen hätten: „Werd‘ gesund, das ist das Beste!“ Die Mutter hat dann hintenrum für das Geld gesorgt, soweit es ging. Ein Patient war sehr betrübt, weil er nichts zahlen konnte, und hat meinem Vater ein furchtbares Cello geschenkt. Wirklich, ein handgemachtes Cello, selbst gebaut, aber es war ein Cello.
In Reps gab es einen Apotheker, den Mederus. Dieser Apotheker hatte in Wien Pharmazie und Klavier studiert. Im Hinterzimmer der Apotheke stand ein Flügel, und ich war sein Klavierschüler, dann auch sein Celloschüler, weil er der einzige war, der Unterricht geben konnte. Obwohl er nicht Cello spielen konnte, war er einer meiner besten Lehrer. Das Kind, das ich war – vielleicht auch ein wenig begabt, wie alle Kinder recht geschickt. Mederus gab mir das Cello in die Hand und eine „Schulung für Selbstunterricht“ beim ersten Cellounterricht. So bin ich bei ihm in die Lehre gegangen und das war großartig, weil er Klavier gespielt hat und ich mit ihm gemeinsam musiziert habe.
So bin ich aufgewachsen mit einer ganz natürlichen Art, Cello zu spielen, ohne Zwänge und ohne Regeln, wie ich die Hände zu halten habe, und, und, und… Das wurde dann bei mir immer intensiver, so dass ich das Gymnasium in Schäßburg kaum noch ertragen konnte, außer den Deutschlehrer und den Musiklehrer, die fand ich toll. Dann sagte mir der Musiklehrer eines Tages: „Du hast hier am Gymnasium nichts verloren, Du musst nach Bukarest in die Musikschule gehen.“ Dort habe ich dann die Aufnahmeprüfung gemacht. In dem Musikgymnasium sind sie fast in Ohnmacht gefallen. Ich musste die Aufnahmeprüfung zweimal spielen, weil sie sämtliche Lehrer der Schule zusammengetrommelt haben, um sich dieses Kind, das aus den tiefsten Karpaten kommt, anzuhören.
Man nahm mich auf und in meiner Klasse war der Edi Weissmann. Seine Familie war vor den Sowjets nach dem 2. Weltkrieg nach Bukarest zum Onkel geflohen. Ich konnte nur gebrochen Rumänisch und war selig, dass ich mit jemandem Deutsch sprechen konnte. Der Unterricht war Rumänisch, doch nach einem Vierteljahr konnte ich fließend Rumänisch, das war dann überhaupt kein Problem mehr. Aber mit Edi habe ich immer Deutsch gesprochen, auch mit seiner Mutter. So sind wir uns nahe gekommen. Ich hatte aber von Czernowitz gar keine Ahnung. Dann kam hinzu, dass wir beide, Edi und ich, in Berlin gelandet sind.
Mit Ihren Eltern haben sie Deutsch gesprochen?
Natürlich, selbstverständlich, auch mit den Geschwistern, auch mit den Freunden. Deutsch war die Umgangssprache. Rumänisch hat man auf der Straße gesprochen mit den Kindern und Ungarisch mit den anderen. Wir sind dreisprachig aufgewachsen, doch eigentlich viersprachig, wenn man das Siebenbürger Sächsisch noch hinzunimmt.
Nach dem Studium gingen Sie dann in den Westen – wieso und warum, so einfach war das damals ja nicht?
Nein, einfach war es überhaupt nicht. Ich bin nicht in Rumänien geblieben, weil meine Eltern als Deutsche einen Ausreiseantrag für die gesamte Familie gestellt haben. Ich durfte vorher nicht aus dem Land heraus, zu keinem Wettbewerb, zu keinem Meisterkurs. Das ist für junge Menschen die Katastrophe auf dieser Erde. Ich habe mich sehr, sehr wohl gefühlt in Rumänien, ich liebe die Rumänen. Viele Züge von ihnen, die ich erlebt habe, finde ich fantastisch. Meine erste Frau war Rumänin, die ist leider gestorben. Sie, die Rumänen, waren nicht der Grund, nur diese furchtbare Diktatur. Damals kamen die bekanntesten Cellisten aus westlichen Ländern nach Bukarest, und ich spielte ihnen vor und sie sagten, „Komm‘ doch zu mir, Du bekommst ein Stipendium und mehr“. Doch die Regierung hat mich nicht gelassen.
Ich bin Jahrgang 1941. Stalin ist in den 50er-Jahren gestorben. Es war der reinste Terror in dem Land, mein Vater hat immer gesagt: „Ich weiß nicht, ob ich morgen früh wieder dort aufwache, wo ich heute Abend eingeschlafen bin.“ Jeden Moment konnte man einkassiert werden und ins Gefängnis gesteckt werden, ohne Prozess, ohne gar nichts. Wir haben trotzdem gelernt, mit diesen verschiedensten Ebenen zurecht zu kommen. Wir hatten in Reps natürlich die Deutschen, wir hatten die Rumänen, wir hatten die Juden, wir hatten die Ungarn und hatten die „Zigeuner“. Wir mussten mit allen irgendwie gut zurecht kommen. Das lernt man halt in dieser multikulturellen Welt.
Die Eltern haben den Ausreiseantrag gestellt und sind mit nach Deutschland gekommen. Sind sie auch mit nach Berlin gegangen?
Nein, nein, die sind in München geblieben. Mein Vater hat in München eine gutgehende Praxis gehabt. Wir sind zwischen 1968 und ‘69 nach München gekommen mit meiner damaligen Frau. Ich habe dann in Berlin Probe gespielt und 1970 meine Stelle bei den Philharmonikern angetreten. Mir wurde auch immer gesagt, dass ich in München nichts zu suchen hätte, ich müsse nach Berlin, das ist das Beste, was es gibt. Herbert von Karajan und die Philharmoniker haben mich Gott sei Dank genommen, und ich bin hier hängen geblieben.
Dann haben Sie auch Edi Weiss-mann aus den Augen verloren?
Lange Zeit wusste ich gar nicht, wo er ist. Dann erfuhr ich, dass er in Westberlin beim Radio-Orchester gelandet ist, dem heutigen Deutschen Symphonie-Orchester, und ich bin zu den Berliner Philharmonikern gekommen. Immer wieder habe ich ihn im Stimmzimmer der Philharmonie getroffen. Wir haben uns jedes Mal wahnsinnig nett unterhalten, doch mehr war damals nicht. Ich hatte zwei Kinder und eine ständig kranke Frau, er war auch beschäftigt mit seinem Alltag. Das ist nun mal so, man verliert sich aus den Augen.
Dann kam das Erlebnis beim Geburtstag meiner Cousine, wo ich das Czernowitzbuch auf dem Tisch liegen sah. Ich hatte schon im Hinterkopf, dass ich etwas über Czernowitz machen möchte. Dieser Paul Celan ist für mich wirklich einer der ganz Großen. Dann fragte ich meine Cousine, wer in Berlin sich denn mit Czernowitz auskennt. Na, dann nannte sie Edi Weissmann. Ich rief ihn an und ging mit meiner Frau zu ihm. Er hat mir einen ganzen Tisch mit Büchern ausgebreitet, die habe ich dann alle bestellt. Meine Czernowitzbibliothek ist sehr, sehr umfangreich. Da begann ich mich reinzulesen.
Das zweite war, dass ich immer mit Edi Zwiespache gehalten habe. Er hat mir immer noch einen Tipp nach rechts und nach links gegeben. Das habe ich in mich aufgenommen, dann hatte ich das ganz große Glück, dass ich Noah Bendix-Balgley als ersten Konzertmeister bei den Philharmonikern habe, der Jude ist und seit seiner Kindheit Klezmermusik macht, zusammen mit Alan Bern. Noah habe ich von meinem Projekt erzählt, er war sofort Feuer und Flamme und hat mir sein jüdisches Musikrepertoire gegeben. Ich hörte mir alles an und zusammen haben wir die Auswahl getroffen. Es ist ja nicht so, dass alles auf meinem Mist gewachsen ist.
(Fortsetzung folgt)