Intellektuelle gerieten in „Fallstricke der Geschichte“

Der Historiker Lucian Boia erzählt die Kulturgeschichte der rumänischen Elite von 1930 bis 1950

Intellektuelle haben es nicht immer leicht. In der Demokratie werden sie selten wirklich ernst genommen, in Diktaturen haben sie ums reine Überleben zu kämpfen und werden schikaniert, wenn sie sich nicht ideologisch anpassen, bestenfalls werden sie instrumentalisiert. Dazwischen fallen Glücksphasen relativer Wahrnehmung, die dann Intellektuelle wie Václav Havel sogar bis ins tschechische Präsidentenamt brachten. Intellektuelle geraten jedenfalls schnell in „Fallstricke der  Geschichte“, wie der rumänische Historiker Lucian Boia in seinem gleichnamigen Band darlegt, der jüngst im Verlag Frank & Timme auf Deutsch erschienen ist.
Um es gleich vorwegzunehmen: Dieser Band kann jedem nur empfohlen werden, der sich mit dem  Kultur- und Geistesleben Rumäniens im 20. Jahrhundert beschäftigt. Seit 1990 gibt es eine rege wie kontroverse Diskussion über Selbstverständnis, Rolle und auch Politisierung der rumänischen Intellektuellen bis 1989.

Die meisten Darstellungen sind entweder einseitige Beschuldigungen oder beschwichtigende Verteidigungen aus der (ungefährdeten!) Sicht der Nachwelt. Sie werden weder der historischen Situation noch den Akteuren gerecht. Boia bietet hier ein materialreiches, gut gegliedertes und recherchiertes Gegenprogramm.
Der Untersuchungszeitraum reicht vom Aufbruch der rumänischen Geisteswelt um 1930 über die Phase der Förderung von Kultur und Wissenschaften durch König Carol II., die Königsdiktatur und den Faschismus unter Marschall Ion Antonescu bis hin zur kommunistischen Machtergreifung mit den folgenden Säuberungsaktionen mit Schnitt im Jahr 1950. Boia gliedert seine Untersuchung sehr sinnvoll in die Abschnitte „Die Offensive der Jugend“, „Demokratie oder Nationalismus?“, „Professoren und Akademiemitglieder“, „Der König“, „Die Legionäre“, „Das Antonescu-Regime und der Krieg“, „Semidemokratisches Intermezzo“ sowie „Kommunismus: Der Moment 1950“.

Er entfaltet das Thema anhand der wichtigsten Akteure aus Universitäten, Presse und der Rumänischen Akademie. Vor allem Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten und Publizisten sowie die Mitglieder der Akademie kommen bei der Analyse in den Blick. Er berücksichtigt insgesamt 140 Persönlichkeiten. Die Liste mit deren Kurzbiografien am Anfang (S. 11-19) erleichtert den Lesern die Lektüre des Bands ganz wesentlich, da nicht alle Namen geläufig sein dürften. Dies liest sich wie ein Who’s who? des rumänischen Geisteslebens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Schon die Aufbruchstimmung der 30er Jahre führt schnell zu einer Polarisierung, wie Boia nachweist. Die Rechte ist in dieser Phase zweifellos bedeutender, aber auch die Linke ist präsent. König Carol II. begeistert mit seiner umfassenden Kulturpolitik viele Intellektuelle. Das Antonescu-Regime schließlich zeigte sich laut Boia janusköpfig: „repressiv einerseits, legalistisch andererseits, und relativ nachsichtig in Sachen intellektuelle Freiheiten; in der Diktatur und im Krieg funktionierten die Universität und das kulturelle Leben in relativer Normalität“ (S. 315). Selbst der Kommunismus brachte keinen radikalen Bruch: Er eliminierte einerseits einen Teil der bisherigen intellektuellen Elite, integrierte aber einen anderen Teil und formte später seine eigene Elite neuen Typs, wie Boia darstellt. Kritisch hält Boia fest: „Nach dem Dezember 1989 wurde niemand entlassen, nicht an den Universitäten, nicht an der Akademie. Aus dem Kommunismus in den Postkommunismus schafften alle den Übergang!“ (S. 314)

Boia geht chronologisch und narrativ vor. Deutlich wird in dem ganzen Band, dass Hierarchien „keine Garanten sind für Exzellenz“, wie der Autor ironisch schreibt (S. 8). Er analysiert mit kritischer Distanz ohne Verklärung oder Verzerrung und mit Verständnis für manche Zwänge jener Zeit, die für die intellektuelle Elite ihre ganz eigenen Fallstricke bereit hielt. So bietet Boia ein Panorama des Geisteslebens und eine Parade der intellektuellen Welt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor politisch völlig unterschiedlichem Hintergrund. Was das glänzend geschriebene und von Larissa Schippel auch kongenial ins Deutsche übersetzte Buch so wertvoll macht, ist der Verzicht auf ideologische Scheuklappen und das Verurteilen oft allzu menschlicher Anpassungsfähigkeit und auch Kehrtwendungen im Leben der damaligen Eliten. Das unterscheidet den Band sehr wohltuend von vielen anderen Veröffentlichungen zum Thema. Diese ausgewogene Sicht ist auch Boias erklärtes Programm, denn „es empfiehlt sich, die damals Handelnden nicht mit uns in Beziehung zu setzen, sondern mit ihrer eigenen Epoche“ (S. 65).

Boia kommt selbst bei der Legionärsbewegung zu einer austarierten Sicht, wenn er schreibt:  „Idealismus und Gewalt sind zwei untrennbare Gesichter der Legionärsbewegung; was abwegig erscheint, ist, dass auch heute manche nur die ‚Reinheit‘ des Projekts sehen, wohingegen andere nur die Entfesselung des Verbrechens sehen“ (S. 124). Und er weist auf die blutigen Repressalien „ohne Vorbild in der Geschichte Rumäniens“ hin, wenn der Staat pauschal 252 Legionäre hinrichten lässt und dadurch selbst zum Kriminellen wird.
So schreibt Boia zwar kritisch und differenziert, aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger aus dem Blickwinkel heutiger political correctness, mit dem so viele Autoren gerade aus der deutschsprachigen Publizistik und Wissenschaft an Themen aus Rumänien herangehen, wenn sie jetzige Maßstäbe und Erfahrungen als Kriterien anwenden für Entwicklungen, Denkprozesse und Haltungen der 30er und 40er Jahre. Dieser Band ist wohltuend anders und überzeugt genau dadurch besonders.

Es sind höchst unterschiedliche Strömungen und Richtungen von extrem linken kommunistischen Prägungen bis zu extrem rechten Vorstellungen eines ethnokratischen Staates, vom Traditionalismus bis zur Kultur der abstrakten Moderne, die in ihrem Wettstreit um kulturelle Dominanz diese aufregende Epoche in Rumänien prägen und von Boia sorgfältig dargestellt werden. Er macht deutlich, dass auch der rumänische Nationalismus jener Zeit nicht nach heutigen Kriterien beurteilt werden kann, war dieser doch nie völkisch-rassistisch. Augenmerk legt Boia auch auf jüdische Intellektuelle und die Entwicklung der Rumänischen Akademie, die trotz ihrer Rolle als Hort des Traditionalismus unterschiedliche Strömungen integrierte bis zu ihrer Auflösung im Kommunismus. Es werden aufrechte, aber auch schillernde, zwiespältige und opportunistisch-angepasste Persönlichkeiten porträtiert, die zeigen, dass auch Intellektuelle nicht zu Helden geboren sind. Im Kommunismus jedenfalls bezahlten viele Intellektuelle für ihr Überleben und sogar Privilegien mit Anpassung beziehungsweise für ihren Widerstand mit Haft oder Tod. Wer mag darüber richten?


Lucian Boia: „Fallstricke der Geschichte. Die rumänische Elite von 1930 bis 1950“, Berlin: Verlag Frank & Timme 2014, 344 S., ISBN 978-3-7329-0048-0 (=Forum: Rumänien, Bd. 21) , 39,80 Euro