Alle paar Jahre schlägt sie wieder zu: die Krise! Überraschung oder voraussehbar? Immunstärkender Fieberschub oder bösartiger Tumor? Einer, der nachhaltig am Organismus der Weltwirtschaft nagt und Wohlfahrt, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit erstickt? Eine Antwort auf diese Fragen – oder zumindest interessante Ansichten – liefert die zweite Ausgabe der „Zeitschrift für städtische Anthropologie“, herausgegeben von Oscar Print, die am 5. Dezember im Grand Hotel Continental Bukarest im Rahmen einer Konferenzdebatte präsentiert wurde. Das Projekt mit wissenschaftlichem Anspruch widmet sich diesmal in Gänze dem Thema Weltwirtschaftskrise. In verschiedenen Fachartikeln werden die gängigen Theorien zu den Ursachen der Krise hinterfragt, soziopolitische Konsequenzen aufgezeigt und mit Studien zu speziellen Gesellschaftsformen und -problemen – etwa den Bergarbeitern Boliviens oder der Geschlechterdiskriminierung in Usbekistan – angereichert.
Die von Dr. Adrian Majuru von der Fakultät für Städtebau an der Architekturuniversität „Ion Mincu“ moderierte Expertendiskussion ließ einen gewagten Paradigmenwechsel anklingen, der als zwingende Konsequenz eine Veränderung der gesellschaftlichen Werte einfordert. Am Pranger stehen also Kapitalismus und freie Marktwirtschaft. Die Zeitschrift, so Dr. Cristina Glavce, Direktorin des Instituts für Anthropologie „Francisc Rainer“, sei nicht nur für Spezialisten gedacht, sondern quasi als Kulturmagazin, das sich interdisziplinär mit Faktoren auseinandersetzt, die das menschliche Zusammenleben verändern. Allgemeine Themen sind zum Beispiel auch die Verlängerung des Lebens durch Fortschritte im Gesundheitswesen, punktuelle Spezialisierung versus Allroundwissen am Arbeitsmarkt oder die Veränderungen des Familienmodells. Dr. Andrei Kozma, Vorsitzender der Anthropologenvereinigung, ist überzeugt: Die Zeitschrift stößt in eine bislang unbesetzte Nische auf dem globalen Markt.
Schadstoff hartnäckig als Heilmittel verabreicht
In der aktuellen weltweiten Wirtschaftskrise verloren unzählige Menschen ihre Arbeit. Ganze Banken gingen den Bach hinunter. „Und doch bereicherten sich dabei einige Wenige um Hunderte Millionen, ohne hierfür wegen Betrugs verklagt zu werden“, gibt Kozma zu bedenken. Und dies völlig legal! Stinkt da nicht etwas, fragt er sich? Harsche Kritik am System, die freie Marktwirtschaft zum höchsten Wert erhebt, übt auch Antoine Heemeryck, Professor an der Sorbonne in Paris: Alle paar Jahre trifft uns eine Krise, analysierte der Experte die Lage der letzten drei Jahrzehnte, die ihren Höhepunkt in der Weltwirtschaftskrise von 2007 fand. Der unvermeidliche Zyklus zeigt auf, dass im Getriebe etwas knirscht. Nach jeder Krise sind die Armen stets ärmer, die Reichen stets reicher. Soziale Systeme, und mit ihnen ganze Gesellschaften, brechen auseinander. Griechenland, Spanien, fallen als Stichworte. „Wie könnte statt dessen eine solidarische Wirtschaft aussehen?“ fordert Heemeryck heraus.
Ursprünglich dazu gedacht, die Bürokratie zu mindern, alles von selbst zu regeln, Emanzipation zu fördern und daher automatisch mit dem Anspruch, moralisch zu sein, hat sich die Ideologie der freien Marktwirtschaft als fehlerhaftes Modell entpuppt, kritisiert der Fachmann auch in seinem Artikel „Eine Krise zwischen Bruch und Institutionalisierung“ in der Zeitschrift. Wir haben Bürokratie wie nie zuvor, das Rechtssystem ist ungerecht, alles was stabil war, ist instabil geworden, wirft er in den Raum. „Man sollte sich fragen, ob das politische und wirtschaftliche Modell sowie der maßlose Reichtum, der von gewissen sozialen Kategorien in den letzten 30 Jahren angesammelt wurde, nicht in dieser Zeit eine Verschiebung in Wirtschaft und Gesellschaft produziert und letztlich die globale Wirtschaftskrise, mit der wir uns konfrontiert sehen, hervorgebracht hat“, kritisiert er und fügt an. „Die vielen Krisen haben jedoch keine Veränderung in der politischen Orientierung bewirkt, sondern – im Gegenteil – die Implementierung fehlerhafter Strategien weiterhin verstärkt und beschleunigt. Denn die Netzwerke, welche die Krise hervorgerufen haben, werden irrationalerweise als Maßnahmen zur Überwindung der Krise eingesetzt.“ Ein Paradox, das jedoch mit dem Ammenmärchen vom Volk, welches aus Angst vor der Krise kein Geld mehr ausgibt und diese damit auslöst, aufräumt.
Fehlende Werte, mangelnder Sinn und Absurditäten
Was also ist faul im System? Ist es der Mechanismus, in dem nur Geld eine Rolle spielt? Sind es fehlende Werte oder mangelnder Sinn? Für Akademiemitglied Constantin Bălăceanu-Stolnici sind es Absurditäten, die überdacht werden müssen: „Man kauft die Luft über einem Grundstück, um zu bauen!“ Und: „Nicht die Schönheit einer Stadt zählt, sondern nur die Anzahl der Wohnungen. Die Dörfer hingegen werden aufgegeben.“
„Muss sich die Marktwirtschaft durch Krisen entwickeln?“ wirft er dann selbst als Frage auf und räumt gleichzeitig ein, die Weltwirtschaft sei ein komplexes, nichtlineares System, also ohnehin nicht zu beherrschen – genau wie das Wetter. Wie beim Schmetterlingseffekt in der Meteorologie kann ein einziges Gerücht Banken und Börsenmärkte zum Einsturz bringen. In diesem Sinne sei auch der Wert der Presse zu hinterfragen: „Sie ist kein Erziehungsmittel, doch auch der Wahrheitsfindung dient sie nicht unbedingt“, kritisiert Bălăceanu-Stolnici und setzt fort, „daher spielt sie nicht immer eine positive Rolle“.
Der Anthropologe schlägt vor, eine weitere Ausgabe der Zeitschrift den Medien zu widmen. Auch Kybernetik und Internet-Kommunikation könnten künftige Themen sein, denn nichts hat die Gesellschaft in den letzten Jahren mehr verändert. Auch wenn die Weltformel, die alles erklären kann – wie auch in der Physik – noch lange nicht greifbar vor uns liegt, scheint doch der holistische Ansatz der Anthropologie, der den Menschen statt Formeln und Zahlen in den Vordergrund stellt, ein vielversprechender und interessanter.